Es ist der Fahnenmast im Vorgarten, der schon beim Vorbeifahren auffällt. Ganz oben ist ein Kompass befestigt, ein Zeiger richtet sich nach dem Wind aus. An den Flaggenleinen sind je nach Anlass unterschiedliche Flaggen gehisst. Während der Weltmeisterschaft zum Beispiel wehten die Fahnen der jeweiligen Nationen, die gegeneinander spielten. Dass an jedem Morgen die anstehenden Partien aktuell angezeigt wurden, dafür sorgte Gerd Falk, der gemeinsam mit seiner Frau eine Straße von mir entfernt wohnt. Als ich im letzten Jahr über jene Aktion für die Schülerzeitung berichtete, stellte ich bei seinen Erzählungen fest, dass die Fahnen nicht einfach nur zum Blickfang von Fußgängern und Radfahren, dienen. Sie haben vielmehr etwas mit Gerd Falks Lebensgeschichte und seinem früheren Beruf als Schifffahrtskapitän zu tun. Ich wollte gerne mehr darüber erfahren und so besuchte ich ihn bei sich zu Hause und ließ ihn erzählen.

Vor 81 Jahren, im Jahr 1934, wurde Gerd Falk in Tannenberg in Ostpreußen geboren. Das Gebiet gehörte damals noch zu Deutschland, war allerdings durch Polen vom Rest des Landes abgetrennt. Er lebte in einem beschaulichen Dorf. Sein Vater, ein gelernter Schneider, arbeitete an einem Hof als Bauer. Hier hätte er aufwachsen sollen. Doch es kam anders. Als seine Mutter 1938 wahrscheinlich an Typhus erkrankte und kurz darauf verstarb, wurden Falk und seine Geschwister an die Onkel und Tanten der Familie aufgeteilt. Er selbst kam zur Schwester seines Vaters, Tante Ottile, und deren Mann Emil nach Lötzen, einer Stadt, die ebenfalls in Ostpreußen lag.
Neben dem familiären Schicksalsschlag, der die Lebensumstände von Gerd Falk bereits in frühen Kinderjahren veränderte, bahnte sich auch die Zeit an, welche für die gesamte Bevölkerung verheerende Folgen haben sollte. „Alle sprachen vom Krieg, schienen in Sorge zu sein. Als Kind sagte mir dieser Begriff nichts, ich wusste das noch nicht einzuordnen.“ Und zunächst änderte sich für den kleinen Jungen auch nicht viel. Ihm gefiel das Stadtleben in Lötzen gut. Es war etwas los, es gab genug zu essen und lange lebte man in Sicherheit. Onkel Emil und sein Sohn jedoch wurden für den Krieg nach Polen rekrutiert. Genau wie Gerd Falks leiblicher Vater, den er nie wieder gesehen hat. Während die deutsche Armee Polen sofort einnahm, blieb es im nur 50 Kilometer entfernten Lötzen bei Gerd Falk und seiner Tante lange ruhig. Sie führten ein weitgehend normales Leben, Falk ging in die Schule und kam schließlich auch zum Deutschen Jungvolk (Vorstufe der Hitlerjugend). Vom Rassismus bekam er hier wenig mit, stattdessen freute er sich ganz einfach über Dinge wie gute Kleidung, mit welcher er dort ausgestattet wurde. „In meinem Umfeld habe ich vom grausamen Nationalsozialismus lange nichts mitbekommen. Erst später bemerkte ich, dass es noch ganz andere Deutsche gibt.“ Und so bekam er die Folgen des Regimes und des Kriegs erst sehr spät zu spüren. Am 24. Januar 1945. Seine Tante hatte ihn mit einem Paket zur Poststelle geschickt. Diese war zwar offen, gleichzeitig aber menschenleer. Auch in den Straßen des Ortes, in dem 20.000 Menschen gelebt hatten, traf er nur noch zwei Nachbarn. Ein Soldat benachrichtigte ihn und seine Tante schließlich: „Geht lieber heute als morgen von hier weg. Die Russen kommen!“ Tatsächlich sollte kurze Zeit später die finale Großoffensive der Russen Ostpreußen erreichen, die letztlich das Ende des Zweiten Weltkriegs einläutete. Die beiden jedenfalls packten zwei Koffer mit dem Nötigsten – außer ein paar Fotos ließen sie jegliche Erinnerungsgegenstände zurück. Was folgten, waren die schlimmsten Monate seines jungen Lebens: Tagelang marschierten sie in Richtung Westen mit dem Ziel, irgendwo in Sicherheit zu sein. Gerd Falk erzählte mir dabei von Erlebnissen, die ich mir weder vorstellen kann noch möchte. Von Beschüssen aus russischen Flugzeugen, die es immer wieder gab. Verpflegungslager, die nach tausenden anderen Flüchtlingen, welche diese Stelle bereits passiert hatten, bereits leer waren. Ein Güterzug, der sie auf der Ladefläche ein gutes Stück mitnahm, auf dem sie bei Minus 20 Grad aber fast erfroren wären. Der schlimmste Abschnitt sei der Weg über das sogenannte Haff gewesen, eine Strecke übers Eis an der Ostsee, bei dem Flüchtlingswagen samt Pferden teilweise eingesunken und Menschen schreiend ertrunken seien.

Was er dabei gefühlt habe, was er für emotionale Erinnerungen an diese Zeit hat, frage ich ihn. Natürlich viel Angst und Traurigkeit. Doch auch wenn es immer drunter und drüber gegangen sei, ging es doch stetig voran – und schließlich auch an einen sicheren Ort.

Auf diesem Schiff startete Falcks Seefahrtslaufbahn.

Auf diesem Schiff startete Falks Seefahrtslaufbahn.

Dieser Ort war für Gerd Falk und Tante Ottile schließlich das rettende Ufer Fehmarns, wo sie etwa zwei Monate nach Aufbruch aus Ostpreußen per Schiff aus Rügenwalde hingebracht wurden. Es war im März 1945, kurz vor Ende des Kriegs. Auf der Ostseeinsel waren sie nicht nur in Sicherheit. Die Faszination, die Falk für den Inselhafen entwickelte, führte ihn nach seinem Schulabschluss 1949 in den Bereich, der sein weiteres Leben dominieren sollte: die Seefahrt. Als Schiffjunge auf einem kleinen Dampfer, der Kiel und Lübeck vor allem mit Schlachtvieh versorgte, verdiente er seine ersten 25 Mark im Monat. Nach einem Jahr stieg er zum Jungmann auf, wurde anschließend Leichtmatrose und Matrose. Immer größere Touren auf immer größeren Strecken folgten. 260 Mark im Monat seien dabei „richtig gutes Geld“ gewesen, betont Falk. Mit der Zeit kletterte er dann auch noch die Offiziersleiter hinauf und schaffte es nach einem Studium im Jahr 1966 schließlich zum Kapitän. Bei Berichten von dieser Zeit kommt er ins Schwärmen: Über das Sushi-Essen in Japan, dass er schon mochte, als es in Deutschland noch niemand kannte. Die Karibik, in die er vor allem wegen des „guten Klimas“ immer wieder gerne gefahren ist. Oder tiefe Freundschaften zu „sehr aufgeschlossenen“ Brasilianern, die auch nach dem 7:1-Sieg Deutschlands im letzten Jahr nicht abgerissen seien.

Natürlich gab es auch unschöne Fahrten; zum Beispiel wenn Orkane wüteten, bei denen unvorstellbar hohe Wellen das Schiff mächtig zum Schaukeln gebracht hätten. „Aber das gehört eben dazu, wenn man mit dem Schiff um die Welt fährt.“, sagt Falk und erzählt außerdem, dass man ihnen als Deutschen überall sehr freundlich und respektvoll begegnet sei – und das bereits kurz nach dem Krieg. So sei es für ihn ein selbstverständlicher Akt des Respekts gewesen, beim Einlaufen in einen fernen Hafen die Fahne des jeweiligen Landes zu hissen. Flaggen seien für ihn immer noch etwas Besonderes, fast etwas „Heiliges“ – und so lagert seine eigene Sammlung von über 100 Flaggen fein säuberlich sortiert im Dachgeschoss und findet am Mast im Vorgarten ihre Anwendung.

Der Fahnenmast während der WM.

Der Fahnenmast während der WM.

Gert und Monika Falck vor ihrem Fahnenmast.

Gert und Monika Falck vor ihrem Fahnenmast.

Seit 1996 ist Gerd Falk nun im Ruhestand. „Ich habe meinen Beruf seitdem an keinem Tag vermisst. Ich habe das lange genug gemacht und hatte am Ende keine Lust mehr.“ Neben dem Fahnenlager, dem Mast draußen gibt es viele andere Dinge im Hause Falk, die an die Zeit als Schiffskapitän erinnern. Stolz zeigt er mir sein Kapitänsfrack, alte Seekarten und Geschenke von ehemaligen Schifffahrtskollegen.

Als ich mich schließlich nach kurzweiligen zweieinhalb Stunden Unterhaltung wieder verabschiede, fühle ich mich richtig gut. Ich habe zunehmend Bewunderung dafür empfunden, mit welch direkter, ehrlicher und ruhiger Art dieser Mann mit mir über seine persönlichen Kindheitserfahrungen gesprochen  hat. Über eine Zeit, die nicht nur weit zurück liegt, sondern auch im Leben der letzten Generationen zum Glück keine Lebenswirklichkeit mehr darstellt. Und doch halte ich es für so wichtig, sich immer wieder mit diesem Kapitel deutscher Geschichte auseinanderzusetzen. Dieses Gespräch hat mir einen persönlichen Zugang geschenkt und mir deutlich gemacht, zu welch einer privilegierten Zeit ich hier in Deutschland – trotz einiger vor allem globaler Sorgen – leben darf. Gleichzeitig hat es mich gefreut, einen wirklich zufriedenen Mann zu erleben, der trotz furchtbarer Erlebnisse in seiner Kindheit ein erfülltes Leben hatte und hat. Vielleicht liegt das auch daran, dass er jede vergangene Lebensphase für sich heute stehen lassen kann.

Beim Abschied verweist er strahlend auf die blühenden Blumen, die seine Frau jüngst eingepflanzt hat. Als ich schon fast die Auffahrt verlassen habe, sagt er noch: „Es ist schon alles ganz gut für mich verlaufen. Wäre ich in Preußen geblieben, ich wäre wohl nie zur See gefahren, sondern hätte als Bauer gearbeitet.“

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