Angelika Beer setzte sich Anfang der 90er Jahre für einen Kriegseinsatz im damaligen Jugoslawien ein – mit unvorhersehbaren Folgen!

Es ist alles schon eine Weile her. Und trotzdem deuten immer noch einige Spuren auf eine Zeit zurück, die das Leben von Angelika Beer für immer geprägt haben werden. Sie hat mich zum Gespräch zu ihr nach Hause eingeladen, um mir einen kleinen Eindruck davon zu vermitteln, was es bedeutet, vom Staat geschützt zu werden. Eine Privatadresse hat sie offiziell immer noch nicht. Ihr Grundstück ist von einem stabilen Zaun umgeben. All ihre Fenster sind schusssicher  und auch die Türen haben eine ungewöhnliche Schwere und Dicke. Auch einige Überwachungskameras gebe es noch, so erzählt sie mir, doch seien diese zum Glück nur bei Bedarf  im Betrieb. All das war lediglich ein Bruchteil vieler Maßnahmen, welche der Staat  für notwendig befand, um den Schutz der damaligen Bundestagsabgeordneten der GRÜNEN gewährleisten zu können.

“Kriegstreiberin!” Diese Beschimpfung musste sich Beer Anfang der 90er Jahre vor allem von Rechtsextremisten – aber auch von linken Autonomen – anhören, als sie Verteidigungspolitische Sprecherin war und mit Rückendeckung ihrer Parteifraktion beschloss, sich für eine militärische Intervention im Jugoslawienkrieg zu positionieren. Eine solche Nachsage tut dann besonders weh, wenn man wie Beer seit Jahrzehnten in Friedensbewegungen für Konfliktbewältigungen auf der ganzen Welt gekämpft und zahlreiche Besuche in Krisengebieten zu einer persönlichen Einschätzung der dortigen Lage unternommen hat. In jenem Fall ist sie im Kriegsgebiet selbst unter Beschuss gekommen und sah einfach keine Möglichkeit mehr, aus diesem Blutbad durch zivile Maßnahmen wieder herauszukommen. Angelika Beer macht Politik aus Überzeugung. Deshalb versuchte sie auch damals, jegliche Schmähungen außer Acht zu lassen, welche sie entweder als Drohbriefe erhielt oder ihr direkt zugerufen wurden. Durch die Kraft ihrer festen Überzeugung, inhaltlich richtig zu handeln, gelang es ihr, sich darüber nur mittelfristig zu ärgern, sich also nicht eingeschüchtert zurückzuziehen.

Für Toleranz und Zivilcourage: Angelika Beer.

Für Toleranz und Zivilcourage: Angelika Beer.

Diese Überzeugung wurde über Nacht auf eine sehr harte Probe gestellt: jede Form von Hass, der bis dorthin zwar an sie herangetragen wurde, sich nicht aber langfristig in ihr festsetzen konnte – er begegnete ihr plötzlich vor der Berliner Wohnung, konfrontativ und aggressiv. Angelika Beer wurde attackiert, sie erlitt eine Verletzung an ihrer Schulter. Ein kurzer Moment, der so viel veränderte – im Äußeren wie im Inneren. Der Täter, der bis heute nicht geklärt ist, war zwar schnell wieder verschwunden. Doch das, was in der Politikern nun fest blieb, war nicht mehr nur die Wut, sondern auch Angst, Verunsicherung. Wie weit kann man einen Weg gehen, auf dem an so vielen Stellen Widerstand lauert, welcher keineswegs auf konstruktives Debattieren dafür vielmehr auf das Verursachen von bleibenden Schäden abzielt? Diese Frage beschäftigte Beer in jener Nacht. Mit ihrer Beantwortung verband sich automatisch ihre Zukunft. Entweder abtauchen, um aus dem Visier zu geraten, oder Hass, Angst und Verunsicherung überwinden, um weiterzukämpfen. Freunde standen ihr in diesen schweren Stunden bei und schon am nächsten Morgen war ein Entschluss gefasst. Weitermachen.

“Statt wie gewöhnlich fünf Journalisten empfingen mich am nächsten Morgen ein Vielfaches mehr aufgeregter Redakteure, die einer typischen BILD-Schlagzeile nachgegangen waren!” Eigentlich hatte sich Angelika Beer vorgenommen, ihren Vorschlag zu einer Bundeswehrreform vorzustellen. Doch nicht nur an diesem Vormittag musste die Expertin für verteidigungspolitische Angelegenheiten feststellen, dass längst nicht mehr sie selbst ihren Alltag vorgab. Über Inhalte wurde kaum gesprochen, sie war einem Gewitter von sensationsbegierigen Fragen ausgesetzt.

Auch hinter dem Unwetter von skandalösen Schlagzeilen und der medialen Stimmungsmache wurde erkannt, dass man praktische  Maßnahmen zu ergreifen hatte, damit der Schutz in dem konkreten Fall der Bedrohung weiterhin bzw. wieder gewährleistet werden konnte. Dieser steht  laut Gesetz jedem Mitglied einesVerfassungsorgan zu. Bundestagsabgeordnete gehören also dazu. Otto Schilly, damaliger Innenminister im rot-grünen Regierungskabinett, veranlasste Personenschutz für Angelika Beer – Sicherheitsstufe 1, somit nicht weiter steigerungsfähig. Was das zu bedeuten hatte, spürte die Politikerin ab dann in jeder Lebenslage.

Sie bewegte sich nicht mehr von A nach B – sie wurde bewegt. Entweder per Flug, der für sie gebucht wurde. Doch nicht nur für sie, sondern von nun an immer auch für ihre drei “Aufpasser”, die Personenschützer. Per Auto gab es eine Dreier-Kolone, sie im mittleren Fahrzeug mit Panzerschutz. Zu Hause stellte man in Neumünster ihr ganzes Dorf auf den Kopf. Ein Polizei-Container direkt vor dem Haus wurde installiert. 24 Stunden am Tag patrouillierten Polizisten. Wer an ihrem Haus passieren wollte, musste sich ausweisen können, Besuch musste angemeldet und geprüft werden. “Man kann sich vorstellen, was das in einem Dorf für Unruhe erzeugt, über die untereinander natürlich gesprochen wird.”

Es war von jetzt auf gleich eine Veränderung, die krasser kaum sein hätte können. Sich darauf einstellen – wie? Dass der eigene Terminkalender nun von zweiter Partei kontrolliert und häufig sogar vorgegeben wurde, nur daran konnte bzw. musste sich Angelika Beer auf Dauer gewöhnen. Es war die einzige Möglichkeit, die Arbeit, die sie unbedingt fortführen wollte, nicht aufgeben zu müssen. Es war ihr eindeutiger Wunsch. Ihn zu erfüllen, anfangs hart. Aus einem politischen Kampf entstand ein zusätzlich persönlicher. Sie hatte das dringende Bedürfnis, mit ihrem Sohn über die letzten Geschehnisse zu sprechen – alleine. Keine Chance! Sicherheitsstufe 1 schließt Unabhängigkeit kategorisch aus! “Ich zog auch meine Mitmenschen in diese Problematik mit hinein. Ich wusste nicht, wie mein Sohn reagieren würde, wenn wir für ein Vier-Augengespräch umstellt wären.”

Doch mit der Zeit wurde dieser Zustand, der mit Normalität herzlich wenig verbindet, für Beer zumindest händelbar geworden. Denn wer ein Kommando von  insgesamt 12 Leuten 24 Stunden um sich hat, muss sich entscheiden – und das hängt auch von der schwierigen Aufgabe der Personenschützer, die sich auf die Schutzperson einstellen  ab:  Misstrauen wäre unerträglich – also ist man irgendwie eine große „Familie“. Und dennoch kann sie mir reihenweise Geschichten über Erlebnisse erzählen, über die sie wohl erst mit zeitlicher Distanz schmunzeln kann. So begegnete ihr beispielsweise auf dem Wochenmarkt eine entsetzte Frau, die Beer volle Einkaufstaschen tragend und um sie herum ihre drei Beschützer mit freien Händen sah. “So etwas hätte es früher nicht gegeben!”, empörte sie sich, weil sie eben nicht wusste, dass die drei Männer für eine potenzielle Gefahrensituation beide Hände sofort zur Verfügung haben mussten. Oder in den Urlaub fahren: sie wollte ins Nichts, um Ruhe zu haben und jeglicher Brisanz wenigstens für eine Weile aus dem Weg zu gehen. Sie wählte eine Wüstenregion in Ägypten. Hotel und Flug hatte sie bereits gebucht. Doch als sie ihren Plan zwangsläufig mitteilte, lagen alsbald auch auf einem ganz anderen Kontinent die drei Männer, die sie bei ihrem Alltag begleiteten, neben ihr am Strand. Kühlte sie sich im Meer ab, geschah das nicht ohne Begleitung. Einmal zog man sie an den Haaren aus dem Wasser. Sie dürfe nicht so lange tauchen, dass man sich Sorgen machen müsse

Gott sei Dank, seit dem verhängnisvollen Abend vor ihrer Wohnung ist Angelika Beer nicht wieder körperlich angegriffen worden. “Klar schrecken solche Maßnahmen, wie sie bei mir getroffen wurden, ab. Und doch finden die, welche einen bestimmten Schaden anrichten möchten, irgendwie immer  einen Weg.” Mit dieser Aussage trifft sie einen entscheidenden Knackpunkt: man kann und muss in Bereichen potentieller Gefahrenbereiche – und zwar nicht nur den Schutz Einzelner betreffend – einen sehr hohen Aufwand betreiben. Doch auch dieser stößt an seine Grenzen, ohne eine absolute Sicherheit durchzusetzen.

Angelika Beer gehört inzwischen den PIRATEN an.

Angelika Beer gehört inzwischen den PIRATEN an.

Die Rückkehr von Sicherheitsstufe 1 bis Stufe 3 und schließlich einem kompletten Wegfallen war noch einmal ein langwieriger Prozess, den Angelika Beer durch viel Geduld ebenfalls überstanden hat. Eine Zeit, wie Angelika Beer sie erlebte, hinterlässt immer – auch wenn sie theoretisch beendet ist, in der Praxis Spuren bei der Betroffenen. Dabei geht es nur nebensächlich um anfangs erwähnte Schutzmaßnahmen auf dem Wohnungsgrundstück. Es betrifft die Psyche. Genauso wie es ihr schwerfiel, sich auf einen Personenschutz diesen Grades einzustellen, so gab es ihr nach schlussendlicher Gewöhnung doch Stabilität – und eben die vermeintliche  Sicherheit. Gleichwohl verschwindet diese erst einmal, wenn drei starke, bewaffnete Männer und Frauen, wie sie die Politikerin über Jahre hinweg auf Schritt und Tritt sogar bis ins Kleidungsgeschäft vor die Anprobekabine begleitet haben, dann auf einmal nicht mehr für den Fall der Fälle bereit stehen. Die verschwundene Hilfe, wofür sich Beer selbst einsetzte, brachte sie zunächst in eine Lebenssituation zurück, die sie dank  therapeutische Betreuung und engsten Freunden wieder zu handhaben lernte. Der Schritt zurück zur Normalität ließ sich erst zu dem Zeitpunkt erreichen, an dem sie das zurückliegende Kapitel nicht verdrängen, sondern loslassen konnte.

Was üble Nachreden ihr gegenüber heute auslösen, frage ich sie schließlich. “Natürlich nehme ich das Ganze heute völlig anders wahr als vor der Zeit meines Personenschutzes.” Und dennoch habe sich an der Herausforderung, damit leben zu können, grundsätzlich nicht viel verändert.

Heute noch steht Angelika Beer für ihre Meinung ein. Nachdem sie bis 2009 im Europarlament saß, besitzt sie nun ein Mandat im Schleswig-Holsteiner Landtag – inzwischen für die Piratenpartei. Parallel dazu agitiert sie in verschiedenen Bewegungen u. a. für Flüchtlinge und gegen Rechtsextremisten. “Ich betreibe Politik so ungerne vom Schreibtisch!”, erklärt Beer und verdeutlicht damit ihre pragmatische Haltung zu Streitthemen. Als z.B. die NPD während des Bundestagswahlkampfes vor ihren Augen rassistische Plakate gegen Sinti und Roma plakatierte, reagierte sie spontan. Mit einem Landtagskollegen der Piraten entfernte sie noch am gleichen Tag eines der Plakate, brachte es zur Polizei und erstattete Strafanzeige wegen Volksverhetzung. “Eigentlich”, so meint Angelika Beer zum Ende unseres Gesprächs, “sind die Menschen, die angegriffen werden und den Mut haben, sich durch eine Gegenaktion zu wehren, wie z.B. die Sinti und Roma, , viel mutiger als ich selbst. Zivilcourage zu sagen, ist eine Floskel der Etablierten geworden. Sie zu leben – das ist mein Ziel. ”

Für mich allerdings hat diese Frau nach ihren Erzählungen höchsten Mut bewiesen. Vor allem aber zolle ich größten Respekt davor, wenn jemand wie Angelika Beer Zivilcourage über solch eine lange Zeit beweist – nicht für sich selbst, sondern für die Überzeugung, in der Gesellschaft damit etwas Gutes zu tun.

"Keine Politik vom Schreibtisch!"

“Keine Politik vom Schreibtisch!”

 

Ein Kommentar

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