Unsere Redakteurin Mailin schreibt über ihre Erfahrungen im Ausland – der erste Teil!
„Und, wie war’s?“ Noch immer versuche ich verzweifelt die letzten fünf Monate meines Lebens mit einem Satz zusammenzufassen, was jedoch schlichtweg unmöglich scheint. Die letzten fünf Monate, die ich in North Riverside, einem Vorort von Chicago verbracht habe, lassen sich ohne Frage als das Aufregendste bezeichnen, das ich in meinem Leben bisher erleben durfte. Neue Leute, Orte, Eindrücke – ich bereue keine Sekunde, mich für das Auslandssemester entschieden zu haben. Auch wenn das vor einem Jahr noch ganz anders ausgesehen hat.
Als der Trend „Auslandsjahr“ aufkam, war ich gleich begeistert. Das MUSSTE ich machen! Inspiriert durch einen Informationsabend der Sparkasse Südholstein saß ich, überschwänglich und euphorisch, quasi schon im Flieger, während meine Eltern der ganzen Sache noch mit etwas Skepsis gegenüberstanden. Und nach einer etwas tiefer greifenden Recherche wurde auch ich auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Je nach Zielland konnte man gut und gerne Kosten von 10.000€ einplanen – ohne monatliches Taschengeld.
Der Gedanke Auslandsjahr hatte sich jedoch in meinem Kopf festgesetzt und meine Euphorie wurde prompt wieder geweckt, als meine Eltern und ich eine Messe besuchten, auf der für Auslandsaufenthalte „Down Under“, sprich in Australien und Neuseeland, geworben wurde. All die Bilder in den Informationsheften, die glänzenden Augen ehemaliger Austauschschüler und die Vorstellung, den deutschen, trüben Alltag hinter mir zu lassen und gegen die Sonne Neuseelands auszutauschen – die Begeisterung hatte mich erneut gepackt. Man machte mir sogar Aussichten auf ein Teilstipendium und ich vereinbarte mit der Organisation einen Termin für ein Beratungsgespräch. Doch die intensive Beratung und Berücksichtigung meiner speziellen Vorlieben hatte auch hier ihren Preis, der mich zu der Überlegung zwang, ob es mir das wirklich wert war. Etwas wehmütig blätterte ich wieder und wieder durch die Prospekte und lehnte die Angebote schließlich ab.
Das sollte es nun aber noch nicht gewesen sein. Durch einen Zeitungsaufruf erfuhr ich außerdem vom PPP, einem Stipendium vom Bundestag, das einem den Gesamtpreis für einen USA-Aufenthalt erstatten würde. Ich bewarb mich, parallel mit einer Bewerbung für ein normales Auslandsprogramm. So ergab es sich auch, dass sich das Wunschziel „Neuseeland“ mehr und mehr in den Hintergrund schob und ich mich neu orientierte. Asien stand für mich als Vegetarierin eh nicht zur Auswahl, und Europa? Zu nah und greifbar. Mit der USA als Wunschziel wurde ich zwar zum typischen „Mainstream-Austauschschüler“, aber irgendwie reizte mich die Vielfältigkeit und vor allem die Massen an Vorurteilen: der stereotypische Amerikaner, den wir Europäer uns so gerne vorstellten.
Nachdem ich bei der Bewerbung um das PPP in die nähere Auswahl gekommen war, wurde ich, nachdem ich ein persönliches Gespräch mit der Grünen Abgeordneten Valerie Willms geführt hatte, letztendlich nicht für das Stipendium ausgewählt. Jedoch war die Vorfreude bereits viel zu groß, um erneut von der Enttäuschung gepackt zu werden. Doch anstatt Enttäuschung machten sich über Zeiten erste Zweifel breit.
Ein Jahr im Ausland bedeutete schließlich: Ein Jahr, das man hier in Deutschland verpasste. Konnte man den Schulstoff aufholen? Was war mit Freunden, Familie? Für mich als Sportlerin stellte sich dann auf einmal noch eine ganz andere Frage: Hatte ich die Möglichkeit, weiter zu trainieren? Über die letzten Jahre hatte ich so viel Zeit, so viel Aufwand in Training investiert, dass es quasi zu meinem Hauptlebensbestandteil geworden war, den ich nun leichtsinnig zu verlieren riskierte. War es das wirklich wert? Verzweifelt versuchte ich, die Entscheidung anderen Leuten aufzuzwingen: Freunden, Trainer, Familie. Doch ich erhielt nichts als widersprüchliche Ratschläge und die immer gleiche Antwort: „Am Ende musst du die Entscheidung treffen!“ So vergingen Tage, Wochen und Monate, ich entschied mich, und entschied mich wieder um. Ich versuchte Vorteile gegen Nachteile aufzuwiegen, jedoch schien nichts meine Entscheidung zu erleichtern. Offiziell war ich schon im Programm aufgenommen, aber solange ich noch keiner Gastfamilie zugewiesen war, konnte ich das Programm noch recht kostengünstig abbrechen. Es war Zeit, sich zu entscheiden. Neben der Option, ein ganzes Jahr im Ausland zu verbringen, konnte man ebenfalls an einem Halbjahresprogramm teilnehmen.. Das schien mir ein verlockender Kompromiss, und so wechselte ich kurzfristig noch das Programm, mit der Möglichkeit im Hinterkopf, notfalls auf ein Jahr zu verlängern. Hundertprozentig überzeugt war ich von meiner Entscheidung jedoch immernoch nicht. Während bei den Vorbereitungen der Organisation, die uns mehr oder weniger, oder besser gesagt gar nicht, auf den Auslandsaufenthalt vorbereiten sollten, alle schon vor Begeisterung schwärmten, hielt sich meine Euphorie stets in Grenzen. Ich hatte das ungute Gefühl, nur eine falsche Entscheidung treffen zu können.
Und dann, eineinhalb oder zwei Wochen vor dem ersten Abflugtermin wurde mir die Entscheidung abgenommen. Ich erhielt meine Gastfamilie, die überraschenderweise nur aus einer Person bestand: Meiner Gastmutter. Außerdem wurde mir, mit meinem Einverständnis, eine chinesische Gastschwester in meinem Alter zugeteilt. Sämtliche Zweifel waren vergessen, und Panik machte sich breit. Es war nun also offiziell – am 8. August würde ich Deutschland für fünf Monate verlassen. Gerade mal eineinhalb Wochen hatte ich Zeit, um sämtliche Vorbereitungen zu treffen, Einkäufe zu erledigen, mich zu verabschieden und erste E-Mails mit meiner Gastmutter und Gastschwester auszutauschen.
Der letzte Tag in Deutschland hat ohne Zweifel den Titel „Stressigster Tag meines gesamten Lebens“ verdient. Die zwei Kilo Übergewicht meines Koffers, halbfertige Gastgeschenke, die panische Angst, irgendetwas Lebensnotwendiges und nicht in Amerika Erwerbbares zu vergessen und die Gewissheit auf einen tränenreichen Abschied am nächsten Tag ließen mir keine ruhige Minute.
Bis das Flugzeug am nächsten Tag die verregnete Startbahn in Frankfurt am Main verließ, Abschiedstränen getrocknet waren, und sich das unbeschreibliche Gefühl von vollkommener Ungewissheit breit machte.
Acht Stunden Flug, drei Filme und zwei geschmacksexplosive Mahlzeiten später, atmete ich das erste Mal die sommerschwüle Luft am Flughafen Chicago O’Hare ein. Nach dem strömenden, deutschen Regen, in dem ich Deutschland verlassen hatte, stellte ich selbstzufrieden fest, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Gemeinsam mit einer Horde von Austauschschülern aus der ganzen Welt wurden ich zuerst in ein Hotel untergebracht, es gab Pizza und Coke zum Abendbrot und wir fühlten uns extrem amerikanisch.
Der eigentliche Höhepunkt war jedoch der nächste Tag: Als ich am Morgen den Raum betrat, erblickte ich sofort das Mädchen, das die nächsten fünf Monate mein Zimmer teilen würde: Wendy. Etwas steif stellten wir uns einander vor, lachten und trotz der typischen Smalltalk-Oberflächlichkeit war sie mir sofort sympathisch. Das gleiche gute Gefühl stellte sich ein, als mich am Nachmittag meine Gastmutter, kurz genannt „Debbie“, in ihre Arme schloss. Ohne Frage, die Atmosphäre hatte etwas Seltsames auf unserer Autofahrt „nach Hause“. Wir waren drei Menschen, die einander noch nie vorher gesehen hatten, von drei verschiedenen Kontinenten kamen und ab der folgenden Nacht unter einem Dach schlafen würden. Das Gefühl von Fremde machte sich bei mit breit, und verstärkte sich noch, als wir zu Hause ankamen und von Debbie’s Familie, die aus gut und gerne zwanzig Personen bestand, in Empfang genommen wurden. Doch die Menschenmenge ließ andererseits auch keine Heimatgedanken aufkommen, und die Aussage, dass Wendy und ich wie Schwestern aussähen, brachte auch mich zum Lächeln. Meine anfängliche Schüchternheit war sicherlich völlig normal, bei der Offenheit von Debbie’s Familie aber im Nachhinein völlig unangebracht. Wir wurden gleich in den Kreis der Familie aufgenommen, es gab kein Verhör oder schräge Blicke und als ich auf dem Grill für mich gesonderte, vegetarische Burger brutzeln sah, hatte ich das Gefühl, angekommen zu sein. Okay, dieses Gefühl milderte sich etwas ab, als ich beim Blick in meinen Schrank feststellte, dass Sauberkeit immer noch subjektiv war. Doch gemeinsam mit Wendy war das Problem schnell gelöst und der Grundstein einer neuen Freundschaft gelegt.
Als ich dann im Bett lag, blieb mir dank Jetlag wenig Zeit für ausschweifende Gedanken. Hier war ich also, angekommen in der Fremde. Was würde die Zeit mit sich bringen? Erste Hürden hatte ich überwunden und bald würde ich auf weitere treffen- und das vollkommen auf mich allein gestellt. Dachte ich. Doch Wendys gleichmäßiger Atem im Bett einige Meter entfernt war wie ein stummes Versprechen: Allein bist du nicht.
Letzte Kommentare