Pressident: Glauben Sie, dass Jugendkriminalität in den letzten Jahrzehnten deutlich angestiegen ist, und was können Sie im Innenministerium gegen die Jugendkriminalität tun?
Giebeler: Im Bereich der Jugendkriminalität gibt es eine verhalten positive Entwicklung. 18.040 junge Leute unter 21 Jahren, 1.617 weniger als 2011, wurden von der Polizei 2012 als Tatverdächtige gezählt. Das entspricht einem Anteil von 24,7 Prozent. Für eine Entwarnung ist es jedoch zu früh, denn bei Raubdelikten sind Jugendliche überdurchschnittlich vertreten. So ist jeder zweite ermittelte Räuber unter 21 Jahren. 44 Prozent der Tatverdächtigen, denen gefährliche und schwere Körperverletzung in der Öffentlichkeit zur Last gelegt werde, sind Jugendliche. Insbesondere im Bereich der Gewalt- und Rohheitsdelikte ist der Anteil der jungen Tatverdächtigen, die bei ihrer Tat unter Alkoholeinfluss standen, mit rund 43 Prozent beziehungsweise 42 Prozent sehr hoch und gegenüber dem Vorjahr nochmals leicht gestiegen. Wurden die Gewalttaten auf öffentlichen Straßen, Wegen oder Plätzen begangen, waren sogar mehr als die Hälfte der ermittelten Tatverdächtigen unter 21 Jahren alkoholisiert. Die Polizei wird auch in der Zukunft mit einer Mischung aus Prävention und Re-pression gegen Jugendkriminalität vorgehen.
Wie sieht der Arbeitstag für Arbeiter im Innenministerium aus?
Im Innenministerium arbeiten rund 450 Beschäftigte in fünf Abteilungen. Jeder hat ein bestimmtes Aufgabengebiet. Es würde den Rahmen eines Interviews sprengen, wollte man an dieser Stelle in die Einzelheiten gehen. Wer mehr darüber wissen will, informiert sich am besten auf der Homepage unter www.innenministerium.schleswig-holstein.de
Wie lange gibt es das Innenministerium schon?
Der erste Innenminister nach dem Zweiten Weltkrieg war Hermann von Mangoldt. Er trat sein Amt am 11. April 1946 an.
Was kann man als einzelner Bürger für die Sicherheit in unserem Land tun?
Im Alltag kommt es auf Wachsamkeit an. Jeder sollte mit offenen Augen seine Umwelt beobachten und Verdächtiges der Polizei melden. Gerät man in eine konkrete Gefahr, dann ist Zivilcourage gefordert. Das heißt nicht, dass man sich selbst gefährdet. Aber man sollte im Rahmen seiner Möglichkeiten helfen, ohne sich dabei zu überschätzen. Auf jeden Fall immer die Polizei rufen und genau beobachten. Hausbesitzer und Mieter sollten großen Wert auf die Sicherheit ihrer Wohnungen legen. Die Polizei hat viele wertvolle Tipps, um die eigenen vier Wände besser gegen Einbrecher zu schützen. Auf der Internetseite der Landespolizei unter www.polizei.schleswig-holstein.de findet jeder zahlreiche Ratschläge zur Vorbeugung gegen Verbrechen.
Wer außer der Polizei ist besonders wichtig, wenn es um Sicherheit geht?
Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz sind neben der Polizei zwei weitere Partner in Sachen Sicherheit. Man kann den Sicherheitsbegriff auch noch viel weiter fassen. Dann kommt man zu dem Ergebnis, dass bereits die Eltern in der Erziehung ihrer Kinder die Verantwortung dafür tragen, dass aus ihren Sprösslingen nicht dereinst Kriminelle werden. In diese Verantwortungskette gehören dann auch Erzieher und Lehrer und die Politik, die für wirtschaftliche und soziale Verhältnisse sorgen muss, die keine gesellschaftlichen Ursachen für das Entstehen von Kriminalität bieten. Das Stichwort heißt Prävention, die nicht allein von der Polizei, sondern von allen Gruppen in der Gesellschaft geleistet werden muss.
Wie genau wird bei Ihnen Sicherheit “geplant”?
Jeder kann und muss zur Sicherheit seinen Beitrag leisten. Wie das beispielhaft gehen kann, habe ich vorhin kurz erläutert. Sicherheit lässt sich nicht im engeren Sinne des Wortes planen, so wie man eine Veranstaltung plant, und dann läuft die planmäßig ab. Man kann Vorkehrungen oder Voraussetzungen schaffen, um möglichst viel Sicherheit zu gewährleisten.. Der Innenminister gewährleistet eine personell ausreichend, gut ausgebildete und modern ausgerüstete Polizei, die ihre Kernaufgaben der Gefahrenabwehr, der Strafverfolgung und der Prävention wahrnehmen kann.
Es gibt ja im Verfassungsschutz einen “Geheimschutz”, der dafür sorgt dass Geheimnisse auch wirklich geheim bleiben. Wie verhilft dieser Geheimschutz zur Sicherheit?
Ich verstehe die Frage so, dass Sie nach der Rolle des Verfassungsschutzes für die Sicherheit fragen. Der Verfassungsschutz ist für die Sicherheit in unserem Land unverzichtbar. Er liefert uns wichtige Erkenntnisse über extremistische Bestrebungen, die – nicht selten verdeckt – sich gegen unsern Rechtsstaat und unsere Demokratie richten. Diese Informationen brauchen wir, um öffentlich zu warnen, aufzuklären, aber auch um mit den Mitteln des Rechtsstaats dagegen vorzugehen. Der Verfassungsschutz arbeitet zwar weitgehend geheim, seine Arbeit ist aber gesetzlich klar geregelt und wird auch parlamentarisch kontrolliert. Der Verfassungsschutz ist eine Einrichtung des Rechtsstaats, er arbeitet im Dienst des Rechtsstaats; er steht aber nicht außerhalb von Recht und Gesetz.
In welchen Bereichen muss die Sicherheit noch deutlich ausgebaut werden; wo gibt es also noch Lücken?
Diese Frage unterstellt, es könne eine absolute Sicherheit geben. Die gibt es aber nicht und wird es auch nie geben. Was man sagen kann, ist, dass unsere Sicherheitsarchitektur in Deutschland stabil und geeignet ist, um ein Höchstmaß an Sicherheit zu gewährleisten. Die Polizei- und Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, der Bundesnachrichtendienst und der Militärische Abschirmdienst arbeiten insgesamt effizient. Dennoch müssen wir uns stets fragen, an welchen Stellen es noch besser laufen kann. Das ist eine ständige Aufgabe, mit der man nie fertig ist. Denn es stellen sich ja stets neue Herausforderungen.
Für die meisten Menschen ist das Gefühl von Sicherheit oft gleichgestellt mit der Anwesenheit der Polizei. Im Grunde genommen ist dies ja auch die Aufgabe der Polizei; sie wurde von unserem Staat beauftragt, für Sicherheit, Recht und Ordnung in unserem Land zu sorgen. In Deutschland funktioniert dieses Prinzip relativ gut, von manchen Ausnahmen nun einmal abgesehen. Schaut man dagegen in die Türkei, hat die Polizei mit dem Wahren der Sicherheit der Menschen kaum noch etwas zu tun – ganz im Gegenteil, die Polizei in der Türkei unter den Anweisungen des türkischen Premiers Erdogan sorgte in der Vergangenheit insbesondere durch das brutale Niederschlagen der Demonstrant_innen gegen die konservative und korrupte Regierung für Schlagzeilen.
Natürlich ist es bekannt, dass die Türkei noch ein bisschen Arbeit und Lernen vor sich hat, was das Thema Menschenrechte betrifft – doch ein Verstoß der Polizei gegen solch grundlegende Menschenrechte, wie das Recht auf Meinungsäußerung und das Demonstrationsrecht ist ein echter Skandal in einem Land, dass es eigentlich anstrebt, Teil der Europäischen Union zu werden. Selbstverständlich steht nicht die Polizei als solche in der Kritik, sondern die Regierung, die sie entsprechend instruiert.
Die Demonstrationen in Istanbul begannen erstmals am 28. Mai 2013, um sich gegen die rücksichtslose Stadtentwicklung der Regierung innerhalb des Gezi-Parks in Istanbul zu positionieren.
Der Konflikt eskalierte, als die türkische Regierung die Demonstrationen am 31. Mai 2013 durch die Polizei gewaltsam niederschlagen ließ, sich als autoritäre und anti-demokratische Kraft durchsetzte und dabei jegliche Menschenrechte unter den Teppich kehrte.
Doch die Demonstrationen gingen weiter, das Verhalten der Regierung hatte ein Feuer entfacht: die Demonstrant_innen kämpften nun nicht mehr bloß gegen Bauprojekte, sondern gegen die islamisch-konservative Regierung; mit einem Mal standen viel größere politische Themen zur Debatte, jedoch artete diese in eine noch intensivere Auseinandersetzung der Regierung mit dem Volk aus. Es kam zu einer Besetzung des Taksim-Platzes, eines zentralen Verkehrsknotenpunktes in Istanbul, durch die Protestierenden („Occupy-Gezi“). Die Proteste in der Türkei fanden eine globale Zustimmung und sorgten immer wieder für Schlagzeilen. Der Höhepunkt der Proteste war erreicht, als am 12. Juni 2013 Premierminister Erdogan den Taksim-Platz und am 15. Juni 2013 schließlich auch den Gezi-Park gewaltsam räumen ließ. Durch die Polizei kamen unter anderem Tränengas und Wasserwerfer zum Einsatz, welchem Wasser eine reizende Chemikalie beigemischt worden war.
Durch diese schockierenden Maßnahmen wurden Tausende Demonstrant_innen, aber auch Zivilist_innen teilweise schwer verletzt. Des weiteren gab es knapp 30 Todesopfer, darunter ein 22-Jähriger Mann, der von einer Tränengaspatrone der Polizei am Kopf getroffen wurde. Die Regierung vertuschte diesen Vorfall und erklärte den Tod des jungen Mannes damit, dass dieser aus dem Fenster gefallen sei.
Wie absurd ist es also, dass die türkische Regierung, die sich für den Schutz, ja, die Sicherheit des Landes und dessen Bewohner_innen einsetzten sollte, den Spieß einfach umdreht und die Sicherheit der Menschen gezielt gefährdet, nur um „Recht zu haben“? Sehr bedenklich, insbesondere wenn man sich mit der theoretischen Bedeutung von Sicherheit einmal genauer auseinandersetzt.
Der Duden definiert den Begriff „Sicherheit“ wie folgt: „Zustand des Sicherseins, Geschütztseins vor Gefahr oder Schaden; höchstmögliches Freisein von Gefährdungen“. All dies muss in einem Staat von der Regierung angestrebt und garantiert werden, nur so kann man ein freies, sicheres Leben führen.
Diese Aspekte gelten jedoch nicht nur für die körperliche Sicherheit vor z.B. Verletzungen – in jedem Fall gelten sie gleichermaßen für die Gebiete der seelischen Sicherheit, z.B. beim Thema Kinder-und Jugendschutz, aber auch für den Datenschutz.
Dieses breite Spektrum, welches die Sicherheitspolitik eines Staates also abdecken muss, ist enorm komplex, daher hören wir auch so häufig von diesbezüglichen Skandalen; das Niederschlagen der Proteste in der Türkei, Todesfälle durch Prügeleien auf Bahnhöfen wegen zu wenig Überwachung, NSA – Skandal wegen zu viel Überwachung – all das ist zurückzuführen auf Probleme in der Sicherheitspolitik. Doch was ist die Kernaussage davon?
Da es sich um einen derart essenziellen Teil der Politik handelt, wird über dieses Thema sehr viel diskutiert, debattiert, gestritten und gelogen. Doch auch mit allen Versuchen, die vom Staat unternommen werden, damit wir alle ein sichereres Leben führen können – zu einhundert Prozent sicher ist man nie.
Ein letztes Mal zurück in die Türkei: Solange also die Sicherheitspolitik des Landes in dem Zustand bleibt, in dem sie sich jetzt befindet- in dem also genau das Gegenteil von Sicherheitspolitik betrieben wird, Gefährdungspolitik sozusagen- und Menschenrechte weiterhin mit Füßen getreten werden und die Regierung sich autoritär und anti-demokratisch aufspielt, solange wird das Leben der Menschen dort immer mehr eingeschränkt und gefährdet sein. Es ist dringend an der Zeit für einen Politikwechsel in der Türkei, für eine Demokratie, die die Menschenrechte heilig schätzt und Europa widerspiegeln kann. Vielleicht klappt es dann auch mit dem Eintritt in die EU.
Es ist alles schon eine Weile her. Und trotzdem deuten immer noch einige Spuren auf eine Zeit zurück, die das Leben von Angelika Beer für immer geprägt haben werden. Sie hat mich zum Gespräch zu ihr nach Hause eingeladen, um mir einen kleinen Eindruck davon zu vermitteln, was es bedeutet, vom Staat geschützt zu werden. Eine Privatadresse hat sie offiziell immer noch nicht. Ihr Grundstück ist von einem stabilen Zaun umgeben. All ihre Fenster sind schusssicher und auch die Türen haben eine ungewöhnliche Schwere und Dicke. Auch einige Überwachungskameras gebe es noch, so erzählt sie mir, doch seien diese zum Glück nur bei Bedarf im Betrieb. All das war lediglich ein Bruchteil vieler Maßnahmen, welche der Staat für notwendig befand, um den Schutz der damaligen Bundestagsabgeordneten der GRÜNEN gewährleisten zu können.
“Kriegstreiberin!” Diese Beschimpfung musste sich Beer Anfang der 90er Jahre vor allem von Rechtsextremisten – aber auch von linken Autonomen – anhören, als sie Verteidigungspolitische Sprecherin war und mit Rückendeckung ihrer Parteifraktion beschloss, sich für eine militärische Intervention im Jugoslawienkrieg zu positionieren. Eine solche Nachsage tut dann besonders weh, wenn man wie Beer seit Jahrzehnten in Friedensbewegungen für Konfliktbewältigungen auf der ganzen Welt gekämpft und zahlreiche Besuche in Krisengebieten zu einer persönlichen Einschätzung der dortigen Lage unternommen hat. In jenem Fall ist sie im Kriegsgebiet selbst unter Beschuss gekommen und sah einfach keine Möglichkeit mehr, aus diesem Blutbad durch zivile Maßnahmen wieder herauszukommen. Angelika Beer macht Politik aus Überzeugung. Deshalb versuchte sie auch damals, jegliche Schmähungen außer Acht zu lassen, welche sie entweder als Drohbriefe erhielt oder ihr direkt zugerufen wurden. Durch die Kraft ihrer festen Überzeugung, inhaltlich richtig zu handeln, gelang es ihr, sich darüber nur mittelfristig zu ärgern, sich also nicht eingeschüchtert zurückzuziehen.
Diese Überzeugung wurde über Nacht auf eine sehr harte Probe gestellt: jede Form von Hass, der bis dorthin zwar an sie herangetragen wurde, sich nicht aber langfristig in ihr festsetzen konnte – er begegnete ihr plötzlich vor der Berliner Wohnung, konfrontativ und aggressiv. Angelika Beer wurde attackiert, sie erlitt eine Verletzung an ihrer Schulter. Ein kurzer Moment, der so viel veränderte – im Äußeren wie im Inneren. Der Täter, der bis heute nicht geklärt ist, war zwar schnell wieder verschwunden. Doch das, was in der Politikern nun fest blieb, war nicht mehr nur die Wut, sondern auch Angst, Verunsicherung. Wie weit kann man einen Weg gehen, auf dem an so vielen Stellen Widerstand lauert, welcher keineswegs auf konstruktives Debattieren dafür vielmehr auf das Verursachen von bleibenden Schäden abzielt? Diese Frage beschäftigte Beer in jener Nacht. Mit ihrer Beantwortung verband sich automatisch ihre Zukunft. Entweder abtauchen, um aus dem Visier zu geraten, oder Hass, Angst und Verunsicherung überwinden, um weiterzukämpfen. Freunde standen ihr in diesen schweren Stunden bei und schon am nächsten Morgen war ein Entschluss gefasst. Weitermachen.
“Statt wie gewöhnlich fünf Journalisten empfingen mich am nächsten Morgen ein Vielfaches mehr aufgeregter Redakteure, die einer typischen BILD-Schlagzeile nachgegangen waren!” Eigentlich hatte sich Angelika Beer vorgenommen, ihren Vorschlag zu einer Bundeswehrreform vorzustellen. Doch nicht nur an diesem Vormittag musste die Expertin für verteidigungspolitische Angelegenheiten feststellen, dass längst nicht mehr sie selbst ihren Alltag vorgab. Über Inhalte wurde kaum gesprochen, sie war einem Gewitter von sensationsbegierigen Fragen ausgesetzt.
Auch hinter dem Unwetter von skandalösen Schlagzeilen und der medialen Stimmungsmache wurde erkannt, dass man praktische Maßnahmen zu ergreifen hatte, damit der Schutz in dem konkreten Fall der Bedrohung weiterhin bzw. wieder gewährleistet werden konnte. Dieser steht laut Gesetz jedem Mitglied einesVerfassungsorgan zu. Bundestagsabgeordnete gehören also dazu. Otto Schilly, damaliger Innenminister im rot-grünen Regierungskabinett, veranlasste Personenschutz für Angelika Beer – Sicherheitsstufe 1, somit nicht weiter steigerungsfähig. Was das zu bedeuten hatte, spürte die Politikerin ab dann in jeder Lebenslage.
Sie bewegte sich nicht mehr von A nach B – sie wurde bewegt. Entweder per Flug, der für sie gebucht wurde. Doch nicht nur für sie, sondern von nun an immer auch für ihre drei “Aufpasser”, die Personenschützer. Per Auto gab es eine Dreier-Kolone, sie im mittleren Fahrzeug mit Panzerschutz. Zu Hause stellte man in Neumünster ihr ganzes Dorf auf den Kopf. Ein Polizei-Container direkt vor dem Haus wurde installiert. 24 Stunden am Tag patrouillierten Polizisten. Wer an ihrem Haus passieren wollte, musste sich ausweisen können, Besuch musste angemeldet und geprüft werden. “Man kann sich vorstellen, was das in einem Dorf für Unruhe erzeugt, über die untereinander natürlich gesprochen wird.”
Es war von jetzt auf gleich eine Veränderung, die krasser kaum sein hätte können. Sich darauf einstellen – wie? Dass der eigene Terminkalender nun von zweiter Partei kontrolliert und häufig sogar vorgegeben wurde, nur daran konnte bzw. musste sich Angelika Beer auf Dauer gewöhnen. Es war die einzige Möglichkeit, die Arbeit, die sie unbedingt fortführen wollte, nicht aufgeben zu müssen. Es war ihr eindeutiger Wunsch. Ihn zu erfüllen, anfangs hart. Aus einem politischen Kampf entstand ein zusätzlich persönlicher. Sie hatte das dringende Bedürfnis, mit ihrem Sohn über die letzten Geschehnisse zu sprechen – alleine. Keine Chance! Sicherheitsstufe 1 schließt Unabhängigkeit kategorisch aus! “Ich zog auch meine Mitmenschen in diese Problematik mit hinein. Ich wusste nicht, wie mein Sohn reagieren würde, wenn wir für ein Vier-Augengespräch umstellt wären.”
Doch mit der Zeit wurde dieser Zustand, der mit Normalität herzlich wenig verbindet, für Beer zumindest händelbar geworden. Denn wer ein Kommando von insgesamt 12 Leuten 24 Stunden um sich hat, muss sich entscheiden – und das hängt auch von der schwierigen Aufgabe der Personenschützer, die sich auf die Schutzperson einstellen ab: Misstrauen wäre unerträglich – also ist man irgendwie eine große „Familie“. Und dennoch kann sie mir reihenweise Geschichten über Erlebnisse erzählen, über die sie wohl erst mit zeitlicher Distanz schmunzeln kann. So begegnete ihr beispielsweise auf dem Wochenmarkt eine entsetzte Frau, die Beer volle Einkaufstaschen tragend und um sie herum ihre drei Beschützer mit freien Händen sah. “So etwas hätte es früher nicht gegeben!”, empörte sie sich, weil sie eben nicht wusste, dass die drei Männer für eine potenzielle Gefahrensituation beide Hände sofort zur Verfügung haben mussten. Oder in den Urlaub fahren: sie wollte ins Nichts, um Ruhe zu haben und jeglicher Brisanz wenigstens für eine Weile aus dem Weg zu gehen. Sie wählte eine Wüstenregion in Ägypten. Hotel und Flug hatte sie bereits gebucht. Doch als sie ihren Plan zwangsläufig mitteilte, lagen alsbald auch auf einem ganz anderen Kontinent die drei Männer, die sie bei ihrem Alltag begleiteten, neben ihr am Strand. Kühlte sie sich im Meer ab, geschah das nicht ohne Begleitung. Einmal zog man sie an den Haaren aus dem Wasser. Sie dürfe nicht so lange tauchen, dass man sich Sorgen machen müsse
Gott sei Dank, seit dem verhängnisvollen Abend vor ihrer Wohnung ist Angelika Beer nicht wieder körperlich angegriffen worden. “Klar schrecken solche Maßnahmen, wie sie bei mir getroffen wurden, ab. Und doch finden die, welche einen bestimmten Schaden anrichten möchten, irgendwie immer einen Weg.” Mit dieser Aussage trifft sie einen entscheidenden Knackpunkt: man kann und muss in Bereichen potentieller Gefahrenbereiche – und zwar nicht nur den Schutz Einzelner betreffend – einen sehr hohen Aufwand betreiben. Doch auch dieser stößt an seine Grenzen, ohne eine absolute Sicherheit durchzusetzen.
Die Rückkehr von Sicherheitsstufe 1 bis Stufe 3 und schließlich einem kompletten Wegfallen war noch einmal ein langwieriger Prozess, den Angelika Beer durch viel Geduld ebenfalls überstanden hat. Eine Zeit, wie Angelika Beer sie erlebte, hinterlässt immer – auch wenn sie theoretisch beendet ist, in der Praxis Spuren bei der Betroffenen. Dabei geht es nur nebensächlich um anfangs erwähnte Schutzmaßnahmen auf dem Wohnungsgrundstück. Es betrifft die Psyche. Genauso wie es ihr schwerfiel, sich auf einen Personenschutz diesen Grades einzustellen, so gab es ihr nach schlussendlicher Gewöhnung doch Stabilität – und eben die vermeintliche Sicherheit. Gleichwohl verschwindet diese erst einmal, wenn drei starke, bewaffnete Männer und Frauen, wie sie die Politikerin über Jahre hinweg auf Schritt und Tritt sogar bis ins Kleidungsgeschäft vor die Anprobekabine begleitet haben, dann auf einmal nicht mehr für den Fall der Fälle bereit stehen. Die verschwundene Hilfe, wofür sich Beer selbst einsetzte, brachte sie zunächst in eine Lebenssituation zurück, die sie dank therapeutische Betreuung und engsten Freunden wieder zu handhaben lernte. Der Schritt zurück zur Normalität ließ sich erst zu dem Zeitpunkt erreichen, an dem sie das zurückliegende Kapitel nicht verdrängen, sondern loslassen konnte.
Was üble Nachreden ihr gegenüber heute auslösen, frage ich sie schließlich. “Natürlich nehme ich das Ganze heute völlig anders wahr als vor der Zeit meines Personenschutzes.” Und dennoch habe sich an der Herausforderung, damit leben zu können, grundsätzlich nicht viel verändert.
Heute noch steht Angelika Beer für ihre Meinung ein. Nachdem sie bis 2009 im Europarlament saß, besitzt sie nun ein Mandat im Schleswig-Holsteiner Landtag – inzwischen für die Piratenpartei. Parallel dazu agitiert sie in verschiedenen Bewegungen u. a. für Flüchtlinge und gegen Rechtsextremisten. “Ich betreibe Politik so ungerne vom Schreibtisch!”, erklärt Beer und verdeutlicht damit ihre pragmatische Haltung zu Streitthemen. Als z.B. die NPD während des Bundestagswahlkampfes vor ihren Augen rassistische Plakate gegen Sinti und Roma plakatierte, reagierte sie spontan. Mit einem Landtagskollegen der Piraten entfernte sie noch am gleichen Tag eines der Plakate, brachte es zur Polizei und erstattete Strafanzeige wegen Volksverhetzung. “Eigentlich”, so meint Angelika Beer zum Ende unseres Gesprächs, “sind die Menschen, die angegriffen werden und den Mut haben, sich durch eine Gegenaktion zu wehren, wie z.B. die Sinti und Roma, , viel mutiger als ich selbst. Zivilcourage zu sagen, ist eine Floskel der Etablierten geworden. Sie zu leben – das ist mein Ziel. ”
Für mich allerdings hat diese Frau nach ihren Erzählungen höchsten Mut bewiesen. Vor allem aber zolle ich größten Respekt davor, wenn jemand wie Angelika Beer Zivilcourage über solch eine lange Zeit beweist – nicht für sich selbst, sondern für die Überzeugung, in der Gesellschaft damit etwas Gutes zu tun.
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Schnell verbreitet sich die Nachricht von diesem besonders fassungslos machenden Fall in ganz Indien, gar weltweit. Eine Welle der Empörung und der Wut geht durch die Bevölkerungsschichten. Bereits zwei Tage nach der Gruppenvergewaltigung, am 18. Dezember 2012, prägen riesige und doch immerzu wachsende Protestzüge die Straßen der Hauptstadt Neu Delhi. Demonstranten fordern, es müsse endlich gehandelt werden, Vergewaltiger mit dem Tod bestraft werden. Auch die parlamentarische Opposition fordert zu einer Verschärfung der Gesetze auf. Während die Proteste mehr und mehr von Gewalt dominiert werden, wird die junge Frau Ende des Monats in eine Singapurer Spezialklinik verlegt, in der sie trotz intensivster, wie hochprofessioneller ärztlicher Versorgung, am 29. Dezember ihren schweren Verletzungen erliegt.
Anfang 2013 schließlich erhebt die indische Staatsanwaltschaft Anklage gegen die Vergewaltiger. Im Februar beginnt, kurz nachdem das Strafmaß für Vergewaltiger auf mindestens 20 Jahre Haft bis hin zur Todesstrafe angehoben worden ist, der Prozess gegen fünf der sechs Beschuldigten. Einer der Peiniger war zum Tatzeitpunkt noch 17 Jahre alt gewesen, sodass über ihn gesondert nach dem indischen Jugendstrafrecht verhandelt wird.
Gut einen Monat darauf, im März, wird der mutmaßliche Drahtzieher der Tat erhängt in seiner Zelle aufgefunden. Die Echos fallen geteilt aus: Zwar ist einerseits die Erleichterung über den Tod des Mannes groß im indischen Volk, doch hält sich die Freude in Grenzen, da man sich besonders für diesen Täter einen demonstrativen und potenzielle Nachahmungstäter abschreckenden Prozess gewünscht hätte.
Am 31. August wird der zur Tatzeit 17-jährige Vergewaltiger zu drei Jahren Jugendarrest verurteilt. Die Proteste flammen erneut auf. Drei Jahre für die Mittäterschaft an einem tödlichen, perversen Verbrechen. Das ist zu wenig, darüber herrscht annähernd Konsens unter den Menschen. Viele fordern, es müsse gegen den mittlerweile Volljährigen nach dem Erwachsenenstrafrecht prozessiert und dann auf Grundlage desselben ein Urteil gefunden werden.
Nur einige Tage später, am 10. September schließlich, werden auch die restlichen vier Angeklagten, welche zwischen Anfang und Mitte 20 sind, schuldig gesprochen. Wenige Tage später wird gegen sie die einzige Strafform, die das Volk und die politische Mehrheit als die richtige anerkennt, die höchste, ergo die Todesstrafe, verhängt.
Zwar behaupten Kritiker, dieses Urteil sei rein politisch motiviert und unter gesellschaftlichem Druck entstanden. Und das Letztere stimmt wohl. Negativ ist diese Tatsache aber nicht. Eine überwältigende Mehrheit in der indischen Bevölkerung forderte diese Strafe. Außerdem wird dieses Urteil eine abschreckende Wirkung haben. Aktuelle Studien bescheinigen, dass in Indien drei von vier angezeigten Vergewaltigern unbehelligt freikommen. Des Weiteren ergab eine Studie der WHO, dass in Asien jeder vierte Mann bereits seine Partnerin vergewaltigt hat. Uns erscheint dies vielleicht zunächst sehr weit hergeholt, doch ist es so, dass es nach wie vor keine Seltenheit ist, dass Mädchen in Indien abgetrieben werden, benachteiligt und später, außer in äußerst modern lebenden Familien, häufig ihrem Mann unterstellt sind, den sie sich in vielen Fällen nicht einmal selbst aussuchen dürfen. Eine weitere, ganz besonders perfide Tradition existiert offenbar in Indien: Versprechen Vergewaltiger, ihr Opfer später zu heiraten, werden sie mit deutlich niedrigeren Strafen belegt. Dass die Opfer dadurch nur weiter verhöhnt werden, war der Gesellschaft lange nicht bewusst – oder egal. Seit dem Fall vom Dezember, einer der ersten, die in Indien der Gesamtbevölkerung bekannt werden, findet ein Umbruch im Denken der Gesellschaft statt. Nicht nur Liberale haben dafür gesorgt, dass eine größere, mutigere Bewegung für die weibliche Gleichberechtigung entstanden ist. So ist seit dem öffentlichkeitswirksamen Vorfall die Anzahl angezeigter Vergewaltigungen deutlich gestiegen, während geschätzt wird, dass die Zahl der Vergewaltigungen selbst, aus Angst vor der nun signifikant wachsameren Justiz und dem neuen Selbstbewusstsein vieler Frauen, gesunken ist. Indien scheint auf einem guten Weg zu sein, ein völlig neues Bewusstsein in der Gesellschaft zu schaffen. Ein neues Bewusstsein für Menschlichkeit und universelle Rechte.
Ob der Tod als Strafe für einen Menschen gerechtfertigt ist, das ist freilich fraglich. Dass die höchstmögliche Strafe in diesem Fall jedoch die einzig richtige ist, das sollte nicht zu bestreiten sein, denn wirklich jeder potenzielle Nachahmer muss abgeschreckt werden.
Die Justiz tut nun, was sie kann. Der Rest muss von der Gesellschaft vollbracht werden. Der Staat und sein Recht, können lediglich durch die Bevölkerung getragen werden. Die Protestler machen ihre Sache gut, mehr und mehr Bürgerinnen – aber nicht zu vernachlässigen, eine ebenso große Anzahl Bürger – empören sich. Man kann nur hoffen, dass die Welle der Modernisierungen des Zusammenlebens und der gesellschaftlichen Konventionen keine Zeiterscheinung ist, sondern neue Formen des Denkens, grundlegend in der Gesellschaft verankert.
]]>Noch vor wenigen Jahren war die Unsicherheit groß: Kann ich als Schüler der verkürzten gymnasialen Oberstufe (G8) einen Schulbesuch im Ausland überhaupt noch realisieren? In welcher Jahrgangsstufe geht das? Wer garantiert mir die spätere Anerkennung der im Ausland erbrachten Leistungen? Diese und viele weitere Fragen haben die Mitarbeiter der Austauschorganisationen wie TravelWorks tagtäglich von Eltern und Schülern gehört. Ein vermeintliches Dilemma: Der Wunsch nach einer High School-Auslandszeit versus die Sorge vor Nachteilen beim hiesigen Schulabschluss.
Heute steht fest: Gastschulaufenthalte boomen trotz G8. Im Schuljahr 2012/13 gingen laut Studie des unabhängigen Bildungsberatungsdiensts weltweiser rund 18.850 SchülerInnen ins Ausland – etwa 5.850 mehr als noch vor zehn Jahren (siehe Grafik), als G8 in der Öffentlichkeit noch kein großes Thema war.
Es geht also, aber wie? Was raten Experten? Grundsätzlich bietet G8 zwei Möglichkeiten für einen High School-Aufenthalt: Entweder man geht in der 10. Klasse und lässt sich die Zeit im Ausland anerkennen, sofern die Versetzungsrichtlinien des jeweiligen Bundeslandes dies Erlauben. Oder man schiebt den High School-Aufenthalt zwischen der 10. und 11. Klasse ein – durch ein zusätzliches Schuljahr oder einen Auslandsaufenthalt beschränkt auf die Sommerferien. Während viele Austauschorganisationen angesichts G8 kürzere Programme ins Angebot genommen haben, entscheiden sich die meisten Schüler die es ins Ausland zieht (85 Prozent), für ein ganzes Schuljahr im Ausland (siehe Grafik, Quelle: Ein Leben lang mobil? – Michael Weichbrodt).
“Wichtig ist es, frühzeitig mit der heimischen Schule zu klären, wie diese zu einem möglichen Auslandsaufenthalt steht. Denn in Deutschland”, so TravelWorks-Geschäftsführerin Tanja Kuntz, “muss die Schulbehörde Schüler für die Auslandszeit beurlauben – es sei denn, diese findet in den Ferien statt. Ein Anspruch auf Anerkennung der Auslandsschulzeit besteht nicht.” Gute Noten an der Gastschule verbessern die Chancen, auch die Fächerwahl kann Einfluss haben – daher ist es unbedingt ratsam, sich frühzeitig bei der deutschen Schule nach den Anerkennungskriterien zu erkundigen. “Manche Schulen machen Vorgaben zur Fächerwahl im Ausland oder sie bieten nach Rückkehr einen Wiedereinstiegstest an”, weiß Kuntz. Und selbst wenn die Auslandsschulzeit nicht anerkannt werden sollte: Ein Gastschulbesuch ist immer ein Plus und prägt meist fürs Leben.
Quelle: Travelworks (www.schueleraustausch-international.de)
]]> President: Wie wollen Sie Deutschland für Familien attraktiver gestalten?
Olaf Klampe: Wir legen großen Wert darauf, erstmal die Familien und die Mitte der Deutschen zu entlasten. Ohne Steuererhöhungen. Wir wollen, dass die Leute letztlich mehr Geld in der Hand haben. Damit haben sie auch mehr Möglichkeiten, ihr eigenes Leben zu gestalten, was letztendlich Familien und auch Singles entgegenkommt. Denn dann haben sie mehr Möglichkeiten, können teilhaben an vielen Dingen und soziale Kontakte knüpfen. Das sind die Grundvoraussetzungen. Wir haben in den letzten Jahren festgestellt, dass genau dann der Nebeneffekt eintritt: neue Jobs entstehen, weil die Leute mehr Geld ausgeben. Und das ist der beste Weg, die Familien zu entlasten.
Und denken Sie, es wird irgendwann einmal keine Arbeitslose in Deutschland mehr geben?
Das ist unser Ziel. Auf der einen Seite haben wir den demografischen Wandel, der ist nicht neu. Wir sehen momentan eine boomende Wirtschaft, weil wir gewisse Weichen gestellt haben. Wenn wir jetzt aber Europa anschauen, gibt es riesige Probleme, überhaupt Jugendliche aber auch normale Menschen in Arbeit zu bringen. Daraus resultieren riesige Arbeitslosenquoten. Diese haben wir aber nicht, weil wir gewisse Arbeitsmarktrüstungen gemacht haben und auch nicht, weil wir viel Geld in diesen Bereich investieren, um den Leuten wieder die Chance zu geben, wieder neu einzusteigen, durch Umschulungen oder Weiterbildungen. Es ist momentan aufgrund des Wirtschaftswachstums, das wir erleben, möglich, eine Vollbeschäftigung zu erreichen. Ob das in den nächsten vier Jahren passiert, das sei mal dahingestellt.
Da wir hier gerade an einer Schule sind: wie ist Ihre Meinung zum Thema Ganztagsschule?
Das ist jetzt eine schwierig Frage, weil ich selbst keine Kinder in der Schule habe. Im Prinzip bin ich der Meinung, das sollten die Schulen und die Eltern vor Ort selbst entscheiden. Wir haben politisch den Weg freigemacht, dass Schulen diese Entscheidung tragen können und ich finde, das sollten sie auch selbst übernehmen.
Sollte man Ihrer Meinung nach in Syrien militärisch eingreifen?
Das muss man davon abhängig machen, was die UN-Inspektoren dort herausfinden. Als Deutsche können wir uns selbst kein Bild davon machen. Auf alle Fälle gilt für mich, dass eine Entscheidung ausschließlich unter einem UN-Mandat gemeinschaftlich getroffen werden kann. Trotzdem ist das Giftgasverbrechen, über das nun so viel diskutiert wird, ein Verbrechen, das unbedingt geahndet werden muss.
Würden Sie es gut finden, wenn Sie als möglicher Abgeordneter ihre Nebeneinkünfte offenlegen müssen?
Die werden ja jetzt schon offengelegt, aber nur in gewissen Staffeln. Die Frage ist, ob man jetzt sagen muss, wo das Geld herkommt und wer hat es bezahlt hat. Dabei kann man über die Sinnhaftigkeit streiten. Doch aktuell ist es ja so, dass Anträge auf Offenlegung professionell geprüft werden. Darauf vertraue ich und würde aktuell nichts daran ändern.
Warum genau sollte man Sie als Abgeordneten wählen?
Ich stehe für Wachstum und Fortschritt, will eine positive, wirtschaftliche Zukunftsentwicklung. Mein Ziel ist es, neue Arbeitsplätze zu schaffen, also ganz allgemein gesagt die Gesellschaft zu unterstützen, ohne sie zu belasten.
Wie stehen die Chancen den generell für Ihre Partei bei der Bundestagswahl 2013?
Das ist eine geheime Wahl, deswegen kann man Chancen schwierig kalkulieren. Meine Einschätzung ist, dass wir, die FDP, bundesweit knapp unter zehn Prozent liegen. Und außerdem gehe ich davon aus, dass wir in Schleswig-Holstein sogar zweistellig werden können. Aber das ist dann wie beim Lotto, man weiß es vorher nicht. Man hofft, der nächste Gewinner zu sein und verliert dann. Aber am 22. wissen wir es genau.
Gibt es etwas, was sie in den letzten Jahren an der Bundesregierung besonders gestört hat? Zum Beispiel bestimmte Vorgehensweisen oder Entscheidungen?
Grundsätzlich bin ich mit der Arbeit zufrieden, aber dennoch störe ich mich an manchem: zum Beispiel an den Waffenlieferungen in arabische Länder. Das hat mich gestört. Aber oftmals habe ich auch den Eindruck, dass die Opposition gerne in diese Richtung schießt, obwohl sie einen Anteil an dieser Richtung hat. Häufig wird vergessen, dass auch sie bei bestimmten Abstimmungen mit “Ja” votiert haben. Das ist lange nicht immer ein Alleingang der Regierung gewesen.
Was sind denn die Themen, die Sie dann zusammen mit ihrer Partei in den kommenden Jahren anpacken würden?
Alle aus unserem Grundsatzprogramm, da könnte ich jetzt drei Stunden von reden. Aber am wichtigsten ist mir persönlich der Schuldenabbau.
Sehen Sie ein Thema, welches den Wahlkampf in den restlichen Wochen noch dominieren kann?
Wahrscheinlich die NSA-Affäre. Irgendwie kommt es mir hierbei so vor, als ob alle etwas dazu sagen, obwohl sie gar nicht richtig Bescheid wissen. Ich rate deshalb dazu, vorsichtig mit den eigenen Daten umzugehen und abzuwarten, was in Zukunft passiert.
Was ist denn das Schlimmste, was bei der Bundestagswahl passieren könnte?
Es kann nichts Schlimmes passieren, denn die Wähler wählen. Das ist Demokratie.
Zum Schluss: Was macht ihren Spitzenkandidat so besonders, dass man ihn wählen sollte?
Er ist in den wirtschaftlichen Themen einfach gut aufgestellt. Wir haben in der Diskussion heute (Podiumsdiskussion in der Aula am 6. 9. 2013, Red.) gehört, dass man auch mal mehr Geld ausgeben möchte. Aber niemand stellt die Frage: wer soll das alles erwirtschaften? Die Frage ist in keiner einzigen Talk-Runde gefallen, die ich bisher bestritten habe. Alle reden nur von großen Problemen und blenden dabei aus, dass wir als Regierungskoalition großes Interesse daran haben, diese Probleme mit zu beseitigen. Aber wir gehen einen anderen Weg. Den Weg der sozialen Marktwirtschaft. Und da ist unser Spitzenkandidat Rainer Brüderle eine perfekte Besetzung um diese kompakte Materie lustig und prägnant zu vermitteln, damit viele verstehen, was gemeint ist. Das zeichnet ihn einfach aus!
“Wir haben uns als Spielregeln überlegt, dass jedem Politiker eine begrenzte Redezeit von 60 Sekunden zusteht. Danach wird unsere Assistentin klingeln, und dem Redner/der Rednerin damit signalisieren zum Ende zu kommen!”, erklärte Melanie Eichmann, mit Tim Hoenig zusammen die Moderatorin der Podiumsdiskussion, gleich zu Beginn. Das hatte man sich als Maßnahme überlegt, ewig langen Redephasen einzelner Politiker, denen irgendwann sowieso niemand mehr folgen wollte oder konnte, vorzubeugen. Für die eingeladenen Gäste anfangs eine echte Herausforderung, ihre Aussage in einer Minute auf den Punkt zu bringen und für die zuhörenden Schüler amüsant zu betrachten, wie sich beispielsweise Dr. Ole Schröder von der CDU von der Klingel nicht unterbrechen lassen wollte aber schließlich nachgeben musste.
Doch nach ein paar formalen Anpassungsschwierigkeiten zu Beginn kam wie gewünscht eine politische Debatte in Gang, bei der es hauptsächlich um Inhalte ging und in der sich Klaus-Dieter Brügmann von den Linken, Dr. Valerie Wilms von den Grünen, Olaf Klampe von der FDP, Kai Vogel aus der SPD und eben Dr. Ole Schröder von der CDU durch ihre verschiedenen Parteiprogramme unterschieden. Beispielsweise beim Thema Spitzensteuersatz wurde deutlich, inwieweit die Meinungen auseinadergehen. So loben CDU und FDP sprudelnde Einnahmen und möchten keinesfalls eine Erhöhung, während die Grünen, SPD und die Linke diese in verschieden hohem Maße für richtig und wichtig halten.
Bezüglich des NSA-Skandals beteuerte Schröder, der als Staatssekretär im Innenministerium intensiv mit den Enthüllungen der letzten Monate konfrontiert wird, man werde sich dafür einsetzen, geltendes Internetrecht von dem Verbrauchersitz und nicht wie bisher von dem Land des Servers, auf den man zugreift, abhängig zu machen. Im Gegensatz zu Kai Vogel vertritt er außerdem die Ansicht, dass Edward Snowden als Whistleblower kein Held für den Datenschutz sei, da er von Beginn an mit dem Ziel, Informationen nach außen zu tragen, zum Geheimdienst gegangen sei. Für ihn sei außerdem verwunderlich, warum er mit China und Russland zwei Länder zur Ausreise und Asyl wählte, in denen die Datenüberwachung zur Unterdrückung des Volkes genutzt wird.
Auch bei den anderen angesprochenen Themen wie dem Klimawandel oder dem Betreuungsgeld hielten Klampe und Schröder als Vertreter der regierenden Parteien an ihrem Kurs fest, wohingegen die Oppositionsparteien vor allem in puncto Klimapolitik der Regierung schweres Versagen vorwarfen und die Grünen und SPD ein separates Energieministerium einrichten möchten.
Auch die Zuschauer hatten zum Abschluss noch die Chance, entweder einzelnen Personen oder der ganzen Runde Fragen zu stellen. Und wir als Redaktion nutzten diese Veranstaltung ebenfalls, um anschließend mit jedem Einzelnen noch ein Mini-Interview zu führen, dessen Ergebnis ihr am nächsten Wochenende einläutend zur letzten Woche vor der Wahl sehen könnt.
Es bleibt also spannend – bis wir in gut zwei Wochen durch definitive Ergebnisse dann alle deutlich schlauer sind!
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Der große Festsaal des Hamburger Rathauses füllt sich. Nicht, dass es etwas Besonderes zum Feiern gäbe. Eigentlich hält der Erste Bürgermeister der Freien und Hansestadt nur eine Pressekonferenz ab. Jedoch keine gewöhnliche: Olaf Scholz hat Nachwuchsredakteure aus den Schülerzeitungen eingeladen, ihm Fragen zu stellen und ihn über alle möglichen Themen auszuhorchen. Punkt 14:00 Uhr schleicht sich der kleine, sympathische Mann auch schon durch die Menge, zum Podium. Zunächst richtet er einige Grußworte an die rund 450 anwesenden Schüler. Er erzählt, dass auch er in Hamburg aufgewachsen und zur Schule gegangen sei, die Klassen nicht selten mehr als 35 Schüler gehabt hätten. Kurz darauf stellt sich sein Parteigenosse und Schulsenator Ties Rabe vor. Auch er berichtet von „viel zu großen Klassen“ in seiner Schulzeit.
Schon die erste Frage bezieht sich – wie könnte es anders sein – auf die Elbphilharmonie. Präzise möchte man wissen, ob diese denn auch „bald mal zu nutzen“ sei. Scholz kann sich ein Grinsen nicht verkneifen und teilt mit, dass an dem Projekt, das „ja nun etwas teuer geworden ist“, mit Hochdruck gearbeitet werde, es sich jedoch wegen grundlegender Fehler in der Planung hinziehe. Das Thema wird durch einige jüngere Schüler zügig auf Umweltschutz gelenkt. Was Olaf Scholz denn als Bürgermeister dafür tue, wird er gefragt. Und schon fängt der SPD-Politiker an, zahlreiche Punkte zu nennen. Anfangs stellt er klar, dass man sich ja heutzutage keine Sorgen mehr zu machen brauche, „dass die Wälder auf einmal nicht mehr funktionieren“. Außerdem sichert er zu, noch mehr für den öffentlichen Nahverkehr tun zu wollen, Grüngebiete zu Naturschutzgebieten machen zu wollen, um sie auch langfristig zu erhalten und Fischtreppen bauen zu wollen, „sodass Fische die Hamburger Flüsse problemlos“ nutzen könnten. Und so erheitert wie Scholz bei der Frage, ob er damals gut gewesen sei in der Schule, die er mit „Ich muss gestehen: Ja!“ beantwortet wirkt, so ernst wird er bei der Frage, was er vom Verkauf des Hamburger Abendblatts halte. Nach einiger Zeit verkniffenen Nachdenkens, kommt er zu dem Schluss, das sei „schon etwas ganz Besonderes“ und er hoffe, dass die neuen Herausgeber die Qualität des Blattes weiterhin sicherten. Als die Frage laut wird, wie man denn überhaupt Bürgermeister werde, fängt Olaf Scholz schallend zu lachen an. Ja, das frage er sich auch manchmal, meint er verschmitzt, kehrt jedoch schnell wieder zu Ernsthaftigkeit zurück und lässt wissen, dass er sich schon in jungen Jahren politisch engagiert habe. Später motivieren sowohl er, als auch Senator Rabe, die jungen Bürgerinnen und Bürger, sich mit Politik zu beschäftigen, sich eigene Meinungen zu bilden, und diese dann auch zu vertreten.
Dann kommt man auf ein zähes Thema zu sprechen: Schulpolitik. Warum die Bildungspolitik denn immer noch Landessache sei, lautet beispielsweise eine Frage. Darauf erwidert Scholz: „Das ist doch jetzt gar nicht so schlecht.“ Auf Landesebene könnten sich die Ministerien viel eher auf jeweilige Probleme oder Besonderheiten einstellen. Dass dadurch aber auf nationaler Ebene dem Chaos kein Ende gesetzt wird, scheint ihn nicht allzu sehr zu beeindrucken. Bildungssenator Rabe fordert kleinere Klassen, individuelle Förderung, insbesondere der Leistungsschwächeren, die Umsetzung weiterer Bildungsreformen und die voranschreitende Vereinheitlichung, des ehemals dreigliedrigen Schulsystems zu fördern. Scholz und Rabe bauchpinseln sich gegenseitig – und genießen es sichtlich. Dennoch weiß sich der Schulsenator nicht recht zu erklären, weshalb Hamburg in Bildungsvergleichen der Bundesländer, immer wieder einen der hintersten Ränge belegt.
Nun folgt eine Auflistung vonseiten des Bürgermeisters, was alles gebaut werden solle. Unter anderem sollen Schulen modernisiert, weitere Kitas, sowie Jugendzentren gebaut werden. Applaus brandet auf. Wie das alles bezahlt werden soll, fragt keiner. Auch Worte wie ‚Schulden‘ oder ‚Haushaltskonsolidierung‘ nehmen weder Olaf Scholz, noch Ties Rabe in den Mund.
Schließlich wird noch das Thema der Wohnungsknappheit in Hamburg angesprochen. Auf den Hinweis, dass sowohl im Jahr 2011, als auch im Jahr 2012 nur jeweils gut die Hälfte des Zieles der Anzahl der geplanten neu gebauten Wohnungen, mit denen im Wahlkampf geworben worden war, erreicht worden ist, weicht Scholz aus und verweist auf erteilte Baugenehmigungen.
„Jetzt ist die Fragestunde aber auch wirklich vorbei“, stellt ein Mitarbeiter um 15:30 Uhr treffend fest und der monumentale Saal leert sich eben so schnell, wie er sich gefüllt hatte. Zurück bleibt der Eindruck, dass die Stadt Hamburg mit Ties Rabe, einem typischen SPD’ler, einen engagierten Schulsenator hat, der zwar umstrittene, aber häufig nicht unzureichend Erfolg versprechende Lösungsvorschläge vorlegt, deren Finanzierung und Umsetzung nicht umfassend geklärt ist und dass Olaf Scholz viel bewegen will. Das ist gut. Leider bleibt aber nach wie vor die offen, wie Scholz das Blaue vom Himmel, das er verspricht, zu bezahlen gedenkt. Höhere Kreditaufnahmen? Weitere Steuererhöhungen? Es bleibt also abzuwarten, wie sich Hamburg unter ‚König Olaf‘, wie Scholz, dessen Popularitätswerte in letzter Zeit nachgelassen haben, auch genannt wird, entwickelt.
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Wenn der Botschafter aus Berlin nach Hamburg kommt, könnte er die Zeit nutzen, um in der großen Medienstadt den Zeitungen und Fernsehsendern ein Interview zu geben. Doch er denkt nicht daran – lieber nimmt er sich Zeit für die zehnten, elften und zwölften Klassen der THS und redet mit ihnen über eines seiner Lieblingsthemen: Helden. Murphy kommt zu spät – er vertraute der Deutschen Bahn – und überzieht aber auch die ein oder andere Minute. Dass die Hamburger Politikgrößen um Olaf Scholz, die ihn im Rathaus empfangen werden, etwas länger auf ihn warten müssen, scheint zweitrangig.
Amerikanischer Glamour wird bereits spürbar, als Murphy die Aula der THS betritt. Mit Musikbegleitung stürmt er nach vorne, reißt die Hände nach oben, klatscht Schüler ab und versprüht einen großen Hauch von Nähe und Bodenständigkeit. Keine fünf Minuten hält es ihn auf der Bühne, dann befindet er sich inmitten aller Schüler, stellt Fragen, interagiert mit dem Publikum, und sagt zu fast allen Antworten der Schüler, dass sie “sehr, sehr gute Antworten” seien.
Murphy sprach in seiner charismatischen und mitreißenden Art über die gute Deutsch-Amerikanische Beziehung und die historischen Personen, die Ihren Beitrag dazu geleistet haben. Er redete von Martin Luther King, dem Bürgerrechtler, der gegen Rassismus kämpfte und der die “beste Rede des vergangen Jahrhunderts” gehalten hätte. Er sprach über Otto Wels, dem Kopf der SPD zu Zeiten des Nazi-Regimes und er erzählte von Konrad Adenauer. Murphy betonte, dass auch heute diejenigen, die für etwas kämpfen, weil sie davon überzeugt sind und nicht, weil andere dafür kämpfen, noch immer genauso wichtig sind wie damals.
Nachdem aus Zeitgründen nur zwei Publikumsfragen von Murphy beantwortet werden konnten, wandte er sich mit seiner wichtigsten Botschaft erneut an die Schüler und redete ihnen Mut zu: “Keiner weiß, ob nicht jemand von euch später einmal Vorstandsvorsitzender, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein oder Fußballer der Deutschen Nationalmannschaft sein wird! Keiner.”
Murphy kam in Begleitung seiner Frau Tammy und der Hamburger Generalskonsulin Inmi K. Patterson, sodass sich die Zahl der Personenschützer weiter erhöhte. Bereits seit dem frühen Morgen kontrollierten diverse Polizeieinheiten an der THS. Die Sicherheit der diplomatischen Gäste wurde größtenteils durch die lokalen Polizisten gewährleistet.
Im Anschluss an die Diskussion zeigte sich Murphy begeistert von der Herzlichkeit der Schüler an der THS. Das Town Hall Meeting an der THS hat ihm viel Spaß gemacht. “Die Schüler haben spannende Fragen gestellt,” sagte er, “und der Auftritt des Schulchors haben mir und meiner Frau sehr gut gefallen.” Pressident bekam die Möglichkeit, dem Botschafter im Kurz-Interview einige Fragen zu stellen.
Pressident: Es ist bemerkenswert, wie häufig Sie an Schulen zu Besuch sind. Warum sprechen Sie mit vielen Schülern und warum machen es andere Politiker nicht?
Philip D. Murphy: Weil ihr die Zukunft seid! Ihr seid es, die in 30 Jahren die Welt lenken werdet. Inwieweit das andere Politiker nicht machen, kann ich nicht beurteilen.
Pressident: Sie haben vier Kinder und planen im Juli Berlin nach vier Jahren zu verlassen. Es ist verwunderlich, dass ihre Kinder nicht sagen: “Nein, du bleibst hier! Wir wollen bei unseren Freunden in Berlin bleiben!”
Murphy: Doch, das sagen sie! Sie lieben Berlin und Deutschland. Deswegen haben wir extra für sie ein Haus in Berlin gekauft, damit sie später zurückkommen können, wann sie wollen, wenn sie groß sind.
Pressident: Warum besuchen Sie gerade die THS?
Murphy: Wir wollen Abschied von Schleswig-Holstein nehmen und Pinneberg liegt sehr nah an Hamburg, wo ich natürlich auch Auf Wiedersehen sagen möchte. Der Kontakt zur THS ist aber in erster Linie dadurch zustande gekommen, dass das Hamburger Generalkonsulat sehr gute Beziehungen zur Deutsch-Amerikanischen Gesellschaft hat, die das Rockville-Pinneberg-Austauschprogramm dieser Schule begleitet.
Pressident: Wie gehen Ihre Kinder damit um, dass Sie eine wichtige Rolle in der Politik spielen?
Murphy: Ich denke, sie sind stolz darauf, dass ich Verantwortung für dieses Land übernehmen kann.
Pressident: Was ist es für ein Gefühl, die ganze Zeit von der Öffentlichkeit vom Sicherheitspersonal begleitet zu werden?
Murphy: Das sind tolle Menschen, und sie leisten eine hervorragende Arbeit. Aber ich freue mich auch auf die Zeit, in der sie mich nicht mehr jeden Tag begleiten werden.
Medien
Berichterstattung |
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Hamburger Abendblatt – Pinneberger Zeitung |
Pressident: Wir möchten über Inklusion reden. Inklusion, das hört sich fast so an wie Illusion.
Waltraut ‘Wara’ Wende: Ist aber keine. Zunächst kann Schleswig-Holstein stolz darauf sein, dass wir eine hohe Inklusionsrate im Vergleich zu den anderen Bundesländern haben.
Pressident: Schleswig-Holstein hat eine Inklusionsquote von knapp 60% und belegt damit einen Spitzenplatz im bundesweiten Vergleich. Möchten Sie diese Zahl weiter erhöhen?
Wende: Erst einmal nicht. Meine Auffassung ist, dass wir quantitativ gut da stehen, aber qualitativ noch einiges geschehen muss. Andererseits gilt: Wenn wir die Situation in Schleswig-Holstein mit der Situation in anderen Bundesländern vergleichen, dann brauchen wir uns auch auf der qualitativen Ebene mit unseren Leistungen nicht verstecken, wir sind auf einem guten Weg.
Pressident: Andere Bundesländer gehen den Weg, dass sie diese Quote nicht exorbitant steigern, sondern versuchen, für weniger Inklusionsschüler einen qualitativeren Unterricht anbieten.
Wende: Dass wir Inklusion umsetzen wollen, war immer klar. Hätte man mich aber zu Beginn der Entwicklung gefragt, dann wäre ich die Situation intelligenter angegangen (Anm. der Red.: Wende ist seit 12. Juni 2012 im Amt). Das bedeutet, dass ich erst einmal die Rahmenbedingungen geschaffen hätte – zum Beispiel durch die entsprechende Qualifizierung der Lehramtsstudenten – um dann nach und nach in den Schulen mit der Inklusion zu beginnen. Ein Problem, das wir aktuell haben, ist nämlich, dass sich viele Lehrer und Lehrerinnen mit der Thematik alleingelassen und überfordert fühlen.
Pressident: Die jetzigen Lehrkräfte hört man darüber klagen, dass sie überfordert seien.
Wende: Ja, und weil dem so ist, benötigen wir nicht nur eine Reform des Lehramtsstudiums, sondern auch gute Weiterbildungsangebote für die Lehrerinnen und Lehrer, die bereits an unseren Schulen arbeiten. Wir können, weil die Situation so ist wie sie ist, nicht mehr darauf warten, bis die zukünftig anders ausgebildeten Lehrkräfte an unseren Schulen ankommen. Es muss schnell etwas geschehen. Das sind wir nicht nur unseren Lehrkräften, sondern auch und vor allem unseren Schülern und Schülerinnen mit und ohne Behinderung schuldig.
Pressident: Also ist die Inklusionsquote eher der falsche Messwert, um erfolgreiche Inklusion zu messen.
Wende: Es ist ein Balanceakt. Ich treffe mich regelmäßig mit ‘Praktikern’, Schulleitern und Schulleiterinnen, Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern, um die Stimmung vor Ort aufzunehmen. Generell finde ich jedoch, dass die Qualität der Inklusion wichtiger ist als die Quantität.
Pressident: Um die Qualität zu verbessern, bedarf es eine bessere Ausstattung der Schulen, zusätzliche Sozialpädagogen, mehr Lehrpersonal und kleinere Klassen. Das ist mit Geld verbunden, welches bekanntlich nicht gerne für Bildung ausgegeben wird.
Wende: Wir würden es sehr gerne ausgeben, aber wir haben es nicht. Einerseits stimme ich der Aussage zu, dass es finanzielle Mittel braucht, um die Situation an unseren Schulen zu verbessern, andererseits fehlt aber auch schlicht das Know-How. Ein Beispiel: Wir wollen zukünftig die Sonderpädagogen so ausbilden, dass sie nicht nur über sonderpädagogisches Fachwissen verfügen, sondern auch in einem Schulfach – beispielsweise in Deutsch, Englisch oder Mathe – Expertise erhalten. Dann hätten wir die Möglichkeit, so ausgebildete junge Menschen sowohl als Sonderpädagogen und Sonderpädagoginnen an den Förderzentren wie auch als Fachlehrer und Fachlehrerinnen an den Regelschulen einzusetzen. Damit wäre viel gewonnen.
Pressident: Sie behaupten aber im Gegensatz zu anderen Befürwortern schon, dass Inklusion auch sehr viel Geld kostet?
Wende: Inklusion kostet Geld, benötigt gute Rahmenbedingungen, und dazu gehört selbstredend mehr als lediglich die zuvor angesprochene Inklusionskompetenz auf Seiten der Lehrkräfte. Insbesondere dort, wo Inklusion gut läuft, sehen wir, dass durch die Schaffung von Barrierefreiheit und die Einstellung von Assistenzkräften zusätzliches Geld in die Hand genommen wurde.
Pressident: Kennen Sie überhaupt die Probleme der Schulen vor Ort?
Wende: Ich denke schon! Ich rede mit ganz vielen Betroffenen, mit Lehrkräften, Schülern und Schülerinnen und natürlich auch mit Eltern. Das beginnt bei der Barrierefreiheit der Schulgebäude, aber das beinhaltet natürlich auch die Rahmenbedingungen von Unterricht, der natürlich viel anstrengender ist, wenn man z.B. einen geistig behinderten Schüler in einer Klasse hat.
Pressident: Inklusion ist ein gesellschaftliches Thema. Es braucht eine allgemeine Akzeptanz und ein Bewusstsein der Mehrheit der Bürger, die ein solches Zusammenleben befürworten und anstreben. Inwieweit herrscht hier noch Nachholbedarf?
Zum Teil ja, zum Teil müssen wir aber den Menschen auch die Ängste vor der Inklusion nehmen. Ich war zehn Jahre in den Niederlanden und dort geht man anders mit der gleichen Thematik um. In Deutschland hat man jahrelang separiert und deshalb ist es für viele Deutsche schlichtweg ungewohnt, dass man es auch anders machen kann.
Pressident: Müssen den Menschen Berührungsängste genommen werden?
Wende: Ganz genau! Es gab vor vielen Jahren in meinem Leben eine Situation, wo ich meine eigenen Defizite in Bezug auf den Umgang mit Menschen mit Behinderung hautnah erlebt habe. Als ich zu Besuch in einem Krankenhaus war und dieses wieder verließ, kam mir ein Rollstuhlfahrer entgegen. Und ich wusste nicht, ob ich ihm jetzt helfen soll. Total unter Stress wollte ich freundlich sein, ihn aber auch nicht bevormunden – ich bin damals nicht auf die simple Idee gekommen, ihn einfach zu fragen, ob er meine Hilfe wünsche. Dafür habe ich mich anschließend ziemlich geschämt.
Pressident: Es gibt Menschen, die das ganze System in Frage stellen. Auch der ARD-Film “Inklusion: Gemeinsam anders” kommt zu dem Schluss, dass Inklusion nicht immer praktizierbar ist.
Wende: Ich bin der Meinung, dass in einigen, sehr schweren Fällen, Inklusion nicht möglich ist. Wenn ich in Förderzentren unterwegs bin und auf Schüler mit erheblichen Behinderungen treffe, kann ich mir nur schwer vorstellen, dass wir irgendwann einmal eine Inklusionsrate von 100% haben – zumindest nicht unter den jetzigen finanziellen Rahmenbedingungen.
Pressident: Zumal die meisten Lehrkräfte bereits jetzt überfordert sind.
Wende: Ich höre viel von Lehrkräften, die sich überfordert fühlen, und zwar unabhängig vom Thema Inklusion. Schulklassen sind nicht homogen, jeder Schüler und jede Schülerin ist anders – und darauf müssen sich die Lehrkräfte einstellen, sie müssen in der Lage sein, jede Schülerin und jeden Schüler individuell zu fördern und zu fordern, sie müssen in der Lage sein, eine Unterrichtsstunde binnendifferenziert anzulegen, nur dann ist Unterricht wirklich gut.
Pressident: Erzählen Sie das einem 50jährigen Lehrer, der seit 20 Jahren denselben Unterricht macht.
Wende: Es wird schwer. Deswegen ist Inklusion ein Thema, dass sozusagen ‘anwächst’ oder man könnte auch sagen, dass sich mit der Zeit ‘auswächst’.
Pressident: Wo liegen die Vorteile einer inklusiven Schule für die Schüler?
Wende: Zum einen nehmen die Berührungsängste ab. Zum anderen glaube ich, dass der Toleranzgedanke größer wird. Damit wir in die Köpfe bekommen, dass jeder Mensch anders ist und dass dies auch gut so ist. Aber auch die Hilfsbereitschaft ist ein wichtiger Faktor. Denn Schule ist nicht nur ein Ort, an dem Schüler intellektuell lernen, sondern an dem sie sich auch sozial entwickeln. Es geht immer um den ganzen Menschen, um seine intellektuellen genauso wie um seine sozialen und auch seine kreativen Potenziale.
Pressident: Ein Nachteil könnte sein, dass das Unterrichtsniveau sinkt.
Wende: Nur, weil man inklusiv arbeitet, heißt es nicht, dass das Unterrichtsniveau sinkt. Dieser Zusammenhang stimmt nicht.
Pressident: Es geht Zeit verloren, wenn Aussagen für hörgeschädigte Schüler wiederholt werden müssen. Dinge können nicht für die ganze Klasse erklärt werden.
Wende: Die Frage ist doch, ob Quantität das Wichtigste ist. In einer Lerngemeinschaft mit ganz unterschiedlichen Schülern profitieren die Leistungsschwachen von den Leistungsstarken, indem sie Lernstoff von ihnen vermittelt bekommen und es profitieren die Leistungsstarken von den Leistungsschwachen, indem sie lernen, Lernstoff zu vermitteln. Und nun könnte man sagen, die Schlauen verlieren doch Zeit, wenn sie den weniger Schlauen Dinge erklären, aber genau das ist zu kurz gedacht, denn auch die Schlauen profitieren vom Erklären: Man muss nämlich ein Thema schon sehr gut verstanden und durchdrungen haben, um es einem anderen Schüler näher zu bringen. Damit haben also beide etwas davon, die, die erklären und die, die etwas erklärt bekommen.
Pressident: Den Forderungen, dass die fachlichen Anforderungen des Unterrichts steigen sollten, damit Deutschland z.B. die PISA-Defizite aufholt, würden sie also nicht zustimmen?
Wende: Dem würde ich nicht zustimmen. Schauen Sie sich die Selbstmordrate in Japan an! Wir brauchen in der Schullandschaft mehr Gelassenheit und wir sollten den Schülern und Schülerinnen mehr Zeit lassen. Kreativität, Einfühlungsvermögen und Sozialkompetenzen sind mindestens genauso wichtig wie die Frage, ob jemand höhere Mathematik beherrscht.
Pressident: Würden Sie einem Lehrer jemals sagen: “Lassen Sie doch das letzte Thema, das im Lehrplan steht, weg. Wichtiger ist, dass die Schüler Sozialkompetenz lernen!”
Wende: Als ich noch Professorin war, habe ich zu Beginn eines jeden Semesters einen Seminarplan erstellt. Und ich bin fast immer von diesem Plan abgewichen, wenn ich z.B. gemerkt habe, dass der Kurs eine Thematik noch nicht richtig verstanden hatte. Gegenfalls bin ich dann mit den Inhalten nicht durchgekommen, aber ich wusste: Das, was wir gemacht haben, haben die Studierenden tatsächlich verstanden!
Pressident: Ist die Fortsetzung des Inklusionsgedanken eine Einheitsschule?
Wende: Einheitsschule würde ich so nicht sagen wollen. Der Begriff unterstellt, dass Schüler und Schülerinnen als uniform und entindividualisiert gedacht werden. Genau das aber darf nicht unser Ziel sein: Schüler und Schüler sind individuell, jeder ist anders als der andere, und es ist gleichwohl möglich, dass alle miteinander lernen. Aus diesem Grund bin ich für den Begriff Gemeinschaftsschule, hier wird das soziale Element, das Miteinander in der Schule betont.
Pressident: Was ist mit der Abschaffung der Gymnasien?
Wende: Viele Schüler und Lehrer wünschen sich die Gymnasien und schon deswegen möchte ich sie nicht abschaffen. Aber ich möchte die zweite Schulform, die Gemeinschaftsschule, zu einer ebenso leistungsstarken Schule entwickeln. Auch als Schüler oder Schülerin einer Gemeinschaftsschule kann man Abitur machen, nur eben auf einem anderen Weg, der deswegen aber kein schlechterer Weg ist, er ist nur eben anders. Beide Schulformen, Gymnasien und Gemeinschaftsschulen, sollen nebeneinander bestehen, pädagogisch unterschiedlich arbeiten, aber gleichwertig sein.
Pressident: Auch wenn die finanziellen Mittel nicht vorhanden sind, werden Sie vermutlich nicht einfach rumsitzen und nichts tun. Was machen Sie als Bildungsministerin, um die inklusive Situation zu verbessern?
Wende: Zum einen nehme ich – wie bereits erwähnt – großen Einfluss auf die Lehrerausbildung. Zum anderen werde ich mich in Kürze mit der Sozialministerin (Anm. d. Red.: Kristin Alheit, ehemalige Pinneberger Bürgermeisterin) zusammensetzen, um über Qualifizierungsmaßnahmen für Inklusionshelfer zu sprechen. Bislang kann jeder Inklusionshelfer werden, ohne jedwede Vorabschulung. Das sollten wir ändern. Gleichzeitig bemühe ich mich, gemeinsam mit den Schulministerinnen und Schulministerinnen der übrigen 15 Bundesländer um finanzielle Mittel vom Bund.
Pressident: Würden Sie sich wünschen, wenn Inklusion bundesweit von allen Ländern gemeinsam angegangen werden würde?
Wende: Das hört sich für manche Ohren möglicherweise sinnvoll an, alle Länder machen es so, wie Berlin es vorgibt, doch wer sagt uns, dass über zentrale Steuerung die besseren Lösungen gefunden werden. Jedes Land muss seinen Weg gehen und wir in Schleswig-Holstein müssen uns bei dieser Thematik nicht verstecken.
Pressident: Was ist mit einem Schüler, der von Schleswig-Holstein nach Niedersachsen umzieht? Kann er dort keine Regelschule mehr besuchen – Niedersachsen hat eine der schlechtesten Inklusionsquoten?
Wende: Sollen wir in Schleswig-Holstein deswegen weniger inkludieren? Das ist ein sehr gutes Beispiel, wir in Schleswig-Holstein müssen unseren eigenen Weg gehen, und sollten uns nicht durch andere Länder ausbremsen lassen.
Pressident: Man könnte einen gemeinsamen Konsens finden.
Wende: Nehmen wir das Bundesland Bayern als Beispiel. Dieses ist laut UN-Konvention genauso zur Inklusion verpflichtet wie wir und trotzdem findet Inklusion dort lediglich in Ansätzen statt. Gleichschritt im Konsens würde häufig Stillstand bedeuten, oder aber Gleichschritt in einem sehr, sehr langsamen Tempo.
Pressident: Welche Gründe haben solche Länder, das Thema Inklusion nicht voranschreiten zu lassen?
Wende: Bedenkenträger haben immer und überall Hochkonjunktur, und die Angst davor, Dinge anders zu tun als man sie immer getan hat, ist meistens größer als der Mut, den es braucht, um Neuland zu betreten.
Pressident: Seit der UN-Konvention ist Kritik an der Inklusion ein Tabu geworden. Umso härter wird dafür das Inklusionskonzept in den Foren im Internet oder auf Stammtischen auseinandergenommen. Verfolgen Sie solche Debatten?
Wende: Ich will sie gar nicht hören! Solche Schimpftiraden sind unter der Gürtellinie.
Pressident: Und wenn die Kritik sachlich ist?
Wende: Dann kommt sie mir auch zu Ohren. Und sie ist mir so wichtig, dass wir in den ersten Wochen unserer Regierung 300 Stellen an die Schulen zurückgegeben haben, die die Vorgängerregierung gekürzt hat, davon haben wir 120 Stellen für die Verbesserung der Inklusion eingesetzt. Das ist zu wenig, aber man merkt: Inklusion ist eine Herausforderung, der ich mich stelle, ich setze mich dafür ein, dass die Rahmenbedingungen Schritt für Schritt besser werden.
Pressident: Wir reden die ganze Zeit über Inklusion, dabei wissen viele überhaupt nicht, was Inklusion ist. Braucht es noch mehr aufklärerische Arbeit?
Wende: Da muss man in der Tat genauer darüber nachdenken. Das Wort Integration werden die meisten Menschen kennen. Das Thema ist ähnlich, aber der Begriff hat sich geändert.
Pressident: Alles in allem: Sind Sie stolz auf das Inklusionskonzept in Schleswig-Holstein, auch wenn Sie sagen, dass noch Nachbesserungen von Nöten sind?
Wende: Ich bin in der Tat stolz darauf! Inklusion ist ein Thema, wo wir den anderen Ländern zeigen können, dass Inklusion funktionieren kann, ich bin der festen Überzeugung: Wo ein Wille ist, findet sich ein Weg.
Pressident: Wie sieht bei Ihnen die inklusive Schule in vier Jahren aus?
Wende: In vier Jahren sind die ersten Lehrer, die nach meinem Modell studieren, kurz davor, ihre Ausbildung zu beenden. Ich wünsche mir für die Zukunft, dass wir alle miteinander darüber schmunzeln, wenn wir uns daran zurückerinnern, dass wir einmal Angst davor hatten, die Inklusion könne misslingen.
Pressident: Dann brauchen Sie auch keine Interviews mehr zu diesem Thema zu geben. Vielen Dank für das Gespräch!
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